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Erneut sind kleine oder auch nicht so kleine Schritte zu einer Entsolidarisierung hier in unserer Gesellschaft festzustellen.”

GedenkfeierDokumentation der Ansprache von Ulrich Keßler, Vorstand des LSVD Berlin-Brandenburg, bei der Gedenkfeier für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen am 27. Januar 2017

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

im Namen der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Lesben- und Schwulenverbandes begrüße ich Sie zu der heutigen Gedenkveranstaltung. Ausdrücklich begrüßen möchte ich die erschienenen Mitglieder des Deutschen Bundestages, des Berliner Abgeordnetenhauses und des Brandenburger Landtages, namentlich Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages sowie die Präsidiumsmitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses und des Brandenburger Landestages, die anwesenden Partei- und Fraktionsvorsitzenden, als Vertreterin des Bundesregierung Staatssekretärin Elke Ferner, für den Berliner Senat Senatorin Katrin Lompscher, Senator Dr. Dirk Behrendt sowie Senator Dr. Matthias Kollatz-Ahnen, Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, den Superintendenten von Tempelhof-Schöneberg, Michael Raddatz, Vertreterinnen und Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen, der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sowie von Parteien und Gewerkschaften. Angesichts der Witterung freut es mich aber auch besonders, dass nicht nur die Genannten – gerne – ihrer Dienstpflicht nachkommen, sondern dass auch wieder zahlreiche Privatpersonen erschienen sind.

Der 27. Januar 1945 als offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus wurde 1996 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt. Da er jüngst verstorben ist, halte ich es für angemessen, aus seiner damaligen Ansprache zu zitieren:

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Auschwitz steht symbolhaft für millionenfachen Mord – vor allem an Juden, aber auch an anderen Volksgruppen. Es steht für Brutalität und Unmenschlichkeit, für Verfolgung und Unterdrückung, für die in perverser Perfektion organisierte „Vernichtung“ von Menschen. […]

Warum aber diese Rückschau heute, nach über 50 Jahren? Warum vor allem unser Wille, die Erinnerung lebendig zu halten? Wäre nicht auch der Wunsch verständlich, Gewesenes zu vergessen, die Wunden vernarben und die Toten ruhen zu lassen? Tatsächlich könnte heute das Vergessen eintreten. […]

Deshalb geht es darum, aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft werden zu lassen. Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen Lehren ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung sind. […]

Es gab und gibt viele totalitäre Bewegungen in der Welt. Intoleranz, Totalitarismus, Folter und Mord waren nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt. Aber ohne wirkliches Beispiel war der in kalte Berechnung umgesetzte Wahn, der ganze Volksgruppen zuerst zu „Untermenschen“ erklärte, dann entrechtete und schließlich ihre systematische physische „Vernichtung“ organisierte. Die Nazis hatten die Definitionsmacht zu bestimmen, wer sein Leben verwirkt hatte, und sie exekutierten ihre völlig irrationalen Festlegungen mit brutaler Konsequenz. Nicht einmal Gefährlichkeit für das System oder Gegnerschaft zum System waren die Selektionskriterien, sondern abstruse Kategorien, denen die Betroffenen hilflos und unentrinnbar ausgeliefert waren, denen sie auch durch unauffälligstes Verhalten nicht ausweichen konnten. Weil sie einer willkürlich bestimmten Rasse angehörten oder sonstwie vom willkürlich festgelegten Menschenbild abwichen, bezeichnete man sie als „Untermenschen“, „Schädlinge“ oder „lebensunwertes Leben“ – Juden, Sinti und Roma, Schwerstbehinderte, Homosexuelle. Und wer erst einmal so eingestuft war, der musste – so wollte es die Ideologie – „vernichtet“, ja „ausgerottet“ werden.

Die Wirkungen dieser Politik waren vor allem deshalb so furchtbar, weil sie sich wohldosiert in das öffentliche Bewusstsein einschlichen, ja weil sie wohldosiert den Gehirnen infiltriert wurden. Es gab keinen point of no return, an dem der Sprung von der Diskriminierung und Demütigung zur „Vernichtung“ für jeden erkennbar gewesen wäre. Die Gewöhnung an die „kleinen Schritte“ half beim Wegschauen und das Wegschauen half, Geschehendes zu übersehen oder gar nicht wissen zu wollen. Deshalb fielen auch die Hellsichtigen und Tapferen dem staatlichen Terror nicht in die Arme, solange das Schlimmste noch zu verhindern gewesen wäre.“

Soweit Roman Herzog. Nochmals zwanzig Jahre später scheint mir dies aktueller denn je. Vor drei Jahren habe ich hier die damals aktuellen politischen Entwicklungen in Russland als besorgniserregendes Beispiel genannt. So weit brauchen wir nicht mehr zu blicken. Erneut sind kleine oder auch nicht so kleine Schritte zu einer Entsolidarisierung hier in unserer Gesellschaft festzustellen. Nicht mit stillem Unbehagen, nein, mit lauter Empörung sollten wir darauf reagieren, wenn auf einmal der Ruf „wir sind das Volk“ nicht Opposition gegen ein undemokratischen Regime ausdrückt, sondern Abgrenzung gegenüber allen, die aus dem von diesen Schreihälsen nach dem eigenen Bild definierten Rahmen fallen, etwa wegen anderer Meinungen oder etwa durch Herkunft, Hautfarbe oder auch selbstbestimmte Lebensentwürfe, und deshalb in deren Augen nicht würdig sein sollen, als Teil des Volkes zu gelten. Dass solch eine Ausgrenzung im schlimmsten Fall zur „Ausmerzung“ führen kann, zeigt die Erinnerung. So hielten die Nationalsozialisten Homosexualität für eine den „Volkskörper“ schädigende „Seuche“.  Solchen erneuten Tendenzen zu wehren dient dieses Gedenken. Umso widerwärtiger ist es, dass gerade aus besagter Ecke die Befürchtungen noch verstärkt werden, indem von einem „Denkmal der Schande“ gesprochen wird. Damit war natürlich das gegenüberliegende Mahnmal gemeint, es trifft aber dieses genauso. Dies zeigt aber auch deutlich, dass es sich nicht um „dämliche Bewältigungspolitik“ handelt, sondern um bittere Notwendigkeit. Deshalb nochmals Dank, dass Vertreter aus allen demokratischen Partien hier teilnehmen.

Nun zu etwas Erfreulicherem: Ebenfalls seit Jahren mahnen wir auf diesen Gedenkveranstaltungen an, dass die Opfer nicht nur durch Erinnerung, sondern auch durch Rehabilitierung gewürdigt werden. Jetzt liegen nicht nur, wie bereits in der Vergangenheit, im Bundestag Gesetzentwürfe der Oppositionsparteien zur Rehabilitierung und Entschädigung der in den beiden deutschen Staaten wegen homosexueller Handlungen Verurteilten vor, sondern hat sich endlich auch der Bundesjustizminister zu einer entsprechenden Vorlage entschlossen. Wir hoffen zuversichtlich, dass es noch in dieser Legislaturperiode auch tatsächlich beschlossen wird.

So wichtig das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist, um Ausgrenzung entgegen zu wirken, so wichtig erscheint es uns auch, positiv daran zu erinnern, wie Teilhabe aussehen kann und beibehalten, ja verstärkt werden muss. Daher freuen wir uns besonders darüber, dass ebenfalls nach langjährigem Bohren dicker Bretter dieses Jahr das Denkmal für die erste Homosexuellenbewegung am Magnus-Hirschfeld-Ufer seiner Vollendung entgegensieht. Da gerade der Finanzsenator anwesend ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, daran zu erinnern, dass laut Koalitionsvertrag die Koalition dafür Sorge tragen wird, dass der Unterhalt des Magnus-Hirschfeld-Denkmals gesichert wird.

Zurück zu diesem Standort, soviel von mir, ich darf jetzt das Wort übergeben an Herrn Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

(Es gilt das gesprochene Wort.)

 



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