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Was bedeutet “Vielfalt”?

Markus Ulrich auf der Grünen Grundsatzakademie (c) Claudia Kristine SchmidtIm Rahmen der Grünen Grundsatzakademie „Was heißt grundsätzlich grün?“ (17.08.2019) war der LSVD eingeladen für einen Impuls zum Thema „Vielfalt und LSBTIQ“. Dokumentation der Rede, gehalten vom LSVD-Pressesprecher Markus Ulrich.

Guten Morgen und herzlichen Dank für die Einladung.

Ich stehe heute vor Ihnen bzw. Euch als Pressesprecher des Lesben- und Schwulenverband, des LSVD. Wir wollen, dass Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen als selbstverständlicher Teil gesellschaftlicher Normalität akzeptiert und anerkannt werden.

Durch dieses Ziel verbindet uns mit den Grünen auch eine lange und wertvolle Geschichte der Zusammenarbeit und Unterstützung – für die wir sehr dankbar sind.

Unter dem Motto „Menscherechte, Vielfalt und Respekt“ vertritt der LSVD seit knapp 30 Jahren Interessen und Belange von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (kurz: LSBTI) bzw. wir versuchen, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Das bedeutet, dass auch wir als LSVD uns die folgenden Gedanken, Fragen und Einwürfe stellen bzw. stellen müssen und ich würde auch nicht behaupten wollen, dass wir bereits alle Antworten auf die Herausforderungen und Widersprüche dieser Zeit gefunden haben.

Insofern äußere ich meine auch kritischen Impulse keinesfalls aus einer Position des Obenherab, sondern vielmehr in der Hoffnung, dass wir zusammen Antworten finden.

Ich bin hier heute also als weißer, schwuler, cisgeschlechtlicher und ostdeutscher Mann der Impulsgeber für „Vielfalt und Selbstbestimmung“.

Und mit dieser Aussage springe ich daher direkt in die Auseinandersetzungen um Repräsentation und um Identitätspolitik.

Es geht zum einen um die Frage, wer ist in Institutionen vertreten, wie divers sind sie besetzt – das trifft natürlich ebenfalls auf die Parteien zu.

Zum anderen geht es um die Frage, wessen Probleme, Interessen und Perspektiven finden Gehör bzw. setzen sich schlussendlich durch.

Ich würde diese beiden Fragen durchaus trennen. Denn eine Alice Weidel zeigt, dass mit einer lesbischen Spitzenpolitikerin und Fraktionsvorsitzenden nicht zwangsläufig eine besonders lesbenfreundliche oder feministische Politik einhergeht.

Zudem glaube ich durchaus an die Möglichkeit, Wissen wiedergeben zu können, ohne bestimmte Erfahrungen selbst gemacht haben zu müssen.

Ich kann und werde auch nicht über Vielfalt reden und dann nur über LSBTI sprechen. Vielmehr versuche ich in meinem kurzen Impuls ausgehend von der LSBTI-Community und mit Bezug auf den Zwischenbericht zum Grünen Grundsatzprogramm zwei Leitfragen zu beantworten

  • Was sind die wichtigsten Konfliktlinien im Bereich sexueller Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Vielfalt?
  • Was sind die wichtigsten Aspekte, die die Grünen zum Thema personeller Freiheit und sexueller Gleichberechtigung fordern sollten?

Ernsthaft? Auf dem queerfilmfestival handeln drei Filme von Lesben, einer von einer Trans* Frau und die restlichen 14 (sic!) von Schwulen. Diversity 2019?“ – dieser Tweet von einer Person namens Birte erhebt Einspruch im Namen von Diversity, im Namen von Vielfalt.

Dabei geht es hier „nur“ um geschlechtliche Vielfalt. Nicht gestellt wird, wie divers die Lesben und Schwulen in den ausgewählten Filmen noch sind – sitzt jemand im Rollstuhl, wie alt, wie jung, welche Hautfarbe, welche Religion, welche Klasse?

Dieser Tweet von dieser Woche zeigt exemplarisch, dass sich die LSBTI-Community Fragen nach Repräsentation und Sichtbarkeit stellen lassen muss bzw. auch selbst stellt. Wer definiert die Interessen von LSBTI? Und wessen Diskriminierungserfahrungen werden genannt und bearbeitet, wenn über Diskriminierung von LSBTI gesprochen wird?

Es sind berechtigte Fragen an doch notwendiger Identitätspolitik. Feministische und antirassistische Politiken bearbeiten die gleichen Fragen und ringen ebenfalls um Antworten.

Fakt ist, dass Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von LSBTI nicht nur homophob oder transfeindlich motiviert sind. Eine schwarze Lesbe wird auch rassistische Diskriminierung in Deutschland erleben. Auch Rassismus ist eine Diskriminierungserfahrung von LSBTI.

Sie merken bzw. ihr merkt, dass ich sehr schnell von Vielfalt auf Diskriminierung zu sprechen komme. So klingt „Vielfalt“ erstmal sehr positiv, fast ungefährlich und bleibt oftmals im Ungefähren. So neu ist gesellschaftliche Vielfalt auch nicht unbedingt neu – vielmehr ist es ihre Anerkennung und Sichtbarkeit.

Doch mit Vielfalt geht auch nicht automatisch Gleichwertigkeit einher. Vielfalt und Hierarchien schließen sich überhaupt nicht aus. So verbirgt sich hinter dem vermeintlich harmlosen Begriff der Vielfalt auch eine sehr schmerzhafte und existenzielle Erfahrungen von Diskriminierung und Gewalt?

Aber während das Wort „Vielfalt“ über 60 Mal im Zwischenbericht genannt wird, kommt das Wort „Diskriminierung“ zehn Mal vor, Sexismus viermal, die Wörter Rassismus, Antisemitismus oder Homophobie finden sich genau einmal, Transfeindlichkeit gar nicht.

Vielfalt beruht auf Unterschieden. Ohne Unterschiede gibt es keine Vielfalt. Gleichzeitig beruhen aber auch Diskriminierungen und Ideologien der Ungleichwertigkeit auf Unterscheidungen.

Wie kann man also Unterschiede anerkennen, ohne jemanden zum „Anderen“ zu machen? Und um die Sache noch kompliziert zu machen: Nicht jede Ungleichbehandlung ist eine Diskriminierung und manchmal liegt gerade in der Gleichbehandlung die Diskriminierung.

Die wenigsten würden von sich sagen, dass sie diskriminieren. So behauptet die AfD etwa, nicht rassistisch zu sein. Die katholische Kirche, evangelikale Strömungen und die Mehrzahl der muslimischen Verbände in Deutschland behaupten, Lesben und Schwule nicht zu diskriminieren. Dass sie gleichzeitig Homosexualität als „Sünde“ bewerten, stellt für sie kein Widerspruch dar.

Gesellschaftlich ist auch Antidiskriminierung Konsens. Umkämpft ist vielmehr, was überhaupt als Diskriminierung gilt, wo Rassismus beginnt, wo Antisemitismus, wo Sexismus, wo Transfeindlichkeit und Homophobie oder andere Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Diese Auseinandersetzung ist auch immer eine knallharte Auseinandersetzung um Ressourcen wie Geld, Aufmerksamkeit, Zeit oder Ansehen bzw. symbolisches Kapital. Auch das verschleiert der Begriff der „Vielfalt“.

So sind die Konflikte innerhalb der LSBTI-Community auch Konflikte um eine gleichberechtigtere und gerechtere Verteilung. Wer wird sichtbar? Wessen Interessen und Anliegen bekommen Aufmerksamkeit?

Auch das nichts LSBTI-Spezifisches. Der Abbau von Privilegien und die Einforderung nach gleichen Rechten bedeutet auch Umverteilung. Mehr Vielfalt heißt dann auch, dass sich ein Tübinger Oberbürgermeister nicht mehr in jeder Werbung der deutschen Bahn wiederfindet.

Schlussendlich beruht aber auch politisches Handeln auf der Notwendigkeit der Priorisierung und damit Hierarchisierung. Auch das neue Grüne Grundsatzprogramm ist begrenzt, soll deutlich kürzer werden als die 190 Seiten vom letzten Mal.

Und auch von mir wird erwartet, Position zu beziehen, in der Frage, was die wichtigsten Aspekte sind, die die Grünen zum Thema personeller Freiheit und sexueller Gleichberechtigung fordern sollten.

Für uns ist dabei klar, dass (sexuelle und geschlechtliche) Vielfalt ein Querschnittsthema in Bildung, Gesundheit, Migration, Gleichstellung, Digitalisierung, Integration, Entwicklungszusammenarbeit sein sollte.

Rechtspolitisch brauchen wir eine Stärkung des Antidiskriminierungsschutzes. Im Zwischenbericht wird klar gemacht, dass für die Grünen Antidiskriminierungspolitik keine Nischenpolitik ist. Allerdings wird es noch nicht wirklich konkret.

Für uns geht es da um Forderungen nach

  • der Stärkung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes
  • dem verfassungsrechtlichen Schutz von sexueller Identität
  • einem auf Selbstbestimmung beruhendes Geschlechtsidentitätsgesetz
  • einer Modernisierung des Abstammungs- und Familienrecht
  • dem Ende von Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit von intergeschlechtlichen Menschen.

Bislang fehlt im Zwischenbericht auch die Konsequenz der Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern für Geschlechtergerechtigkeit.

Gesellschaftspolitisch geht es um die Verteidigung und Stärkung der Demokratie in Zeiten von Autoritarismus und zunehmenden Menschenhass. Hier stimme ich dem Zwischenbericht auch zu.

In der Auseinandersetzung mit Ideologien der Ungleichwertigkeit würde ich unsere Forderungen nach einem Nationalen Aktionsplan und LSBTI-inklusiven Bildungsplänen sowie eine verstärkte Prävention und Bekämpfung von Hassgewalt verorten.

Dabei geht es auch um die Frage, welche Perspektiven und Ansichten von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit, von LSBTI-Lebensweisen im Unterricht vermittelt werden und welche nicht — z.B. im Religionsunterricht.

Das berührt dann auch die unbequeme Frage, wo das Ende von Vielfalt ist, das Ende des Sagbaren? Wo sind die Grenzen der Aushandlung, des Kompromisses. Wenn der Diskurs nach rechts verrutscht, trifft man sich dann noch immer in der Mitte? Vor allem mit Gegner*innen, die einen selbst als „linksgrün versifft“ zum Feind erhoben haben.

LSBTI-Feindlichkeit ist aufs engste verknüpft mit Vorstellungen über Geschlecht, mit dem, wie Frauen und Männer auszusehen haben, zu sein zu haben und wen sie zu lieben haben. Auf Antifeminismus und Beschwörungen von „Genderwahn“ basieren alte und neue unheimliche Bündnisse und Allianzen.

Vor dem Hintergrund rechtspopulistischer Hetze und rechtsextremer Gewalt, religiös-fundamentalistischer Strömungen und gesellschaftlicher Polarisierung gilt es, Erreichtes zu verteidigen und auszubauen, weiter gesellschaftliche Mehrheiten und Rückhalt für Menschenrechte und Respekt zu gewinnen. Das wird für Minderheiten immer eine Herausforderung bleiben.

So brauchen wir auch die Grünen – damit Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen als selbstverständlicher und gleichwertiger Teil gesellschaftlicher Normalität respektiert und anerkannt werden.

Vielen Dank!



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