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Dekolonisierung – aber wie? Menschenrechte für LGBTIQ+ im südlichen Afrika — Botswana

Florence F/Khaxas, Y‑FEM Namibia
Einladung/Invitation

Matlhogonolo Samsam, Black Queer DocX Botswana

Der Webtalk zu “Decolonize but how? Commitment for the Human Rights of LGBTIQ+ in Southern Africa“ fand am 26.11.2024 auf Englisch statt.

Matlhogonolo Samsam von Black Queer DocX aus Botswana erläuterte während dieses Gesprächs ihre Erfahrungen, Konzepte und Forderungen zu den weitreichenden Folgen des Kolonialismus und dessen Überwindung. Dieser Blog-Beitrag fasst wesentliche Aussagen zusammen.

An dem Online-Talk nahm auch Florence F/Khaxas vom Y‑FEM Young Feminists Movement Namibia Trust teil, siehe dazu den erläuternden Blog-Text.

Die Moderation übernahm Cornelia Sperling, FLiP – Frauenliebe im Pott e.V. und Unterstützerin des Masakhane Projektes. Veranstalter*innen waren engagement global gGmbH, Außenstelle Mainz, vertreten durch die Koordinatorin Hanna Hees, und die Hirschfeld Eddy Stiftung.

Sarah Kohrt, Leiterin des Projektes „Kulturen und Kolonialismus“ der Hirschfeld Eddy Stiftung, stellte einführend den thematischen Kontext her.

Ihre Schlüsselfragen betrafen die Advocacy-Arbeit und den Kampf für Menschenrechte im südlichen Afrika. Wie gehen Menschenrechtsverteidiger*innen vor? Denn ihnen wird oft unterstellt, neokolonial zu agieren, obwohl die homophoben Gesetze, die sie abschaffen wollen, Erbe des Kolonialismus sind.

Das betrifft Namibia, eine frühere deutsche Kolonie, wo das höchste Gericht (High Court) im Juni 2024 das seit der Kolonialzeit geltende Verbot gleichgeschlechtlicher Handlungen widerrufen hat. Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus für die transkontinentale Solidarität und für Allianzen? Wie kann die Dekolonisierung deutscher (Entwicklungs-)Zusammenarbeit vorangebracht werden?

Deutsche feministische Außen- und Entwicklungspolitik dekolonisieren

Sarah Kohrt erläuterte: Der europäische Kolonialismus verbreitete im 18. und 19. Jahrhundert rigide Geschlechterrollen und kriminalisierte gleichgeschlechtliche Beziehungen. Vorkoloniale Kulturen mit diversen Gender-Identitäten wurden unterdrückt. Zwar gibt es auf internationaler und multilateraler Ebene und in etlichen Ländern viele Fortschritte zur Entkriminalisierung des queeren Lebens und der LSBTIQ+ Menschenrechte. Doch gleichzeitig stemmen sich konservative Kräfte gegen die emanzipatorischen Bewegungen und setzen damit Menschenrechtsverletzungen fort. Oft werden diese Kräfte von fundamentalistischen Gruppen aus dem globalen Norden unterstützt, etwa von Evangelikalen aus den USA, der russisch-orthodoxen Kirche und dem Vatikan.

Bezugnehmend darauf spannte Sarah Kohrt einen weiteren Diskussionsrahmen: In diesem Spannungsfeld gibt es eine bemerkenswerte dekoloniale feministische Entwicklungs- und Außenpolitik, die ausdrücklich queere Menschen inkludiert. Dieser positive Wandel fand nur statt, weil die deutsche Zivilgesellschaft ihn forderte. Paradoxerweise wird die feministische Advocacyarbeit für Frauen- und LSBTIQ+ Menschenrechte dennoch als neokolonial diskreditiert. So stellt sich die Frage nach transkontinentaler Solidarität und wie die Arbeit für Frauen und LSBTIQ+ dekolonial sein kann. Wie soll die internationale Kooperation dann aussehen?

Cornelia Sperling: Was sind die Auswirkungen des Kolonialismus auf Lesben und LBQ-Frauen in Botswana?

Matty_Samsam_Decolonize, Copyright Matlhogonolo Samsam

Matlhogonolo (Matty) Samsam, Medienexpertin und Aktivist*in von Black Queer DocX aus Botswana: Botswana war von 1885 bis 1966 eine britische Kolonie. In der Zeit wurden neue Regierungsstrukturen und hierarchische Entscheidungsebenen etabliert. Nun dominierten die Amtsträger des Kolonialapparats, auf sie wurde fortan die ganze Macht konzentriert. Damit wurde die traditionelle Gemeinschaftsorientierung bei Entscheidungsprozessen abgeschafft. Im traditionellen Kgotla (öffentliche Versammlung, Gemeinderat und Gericht) waren nicht nur die Chiefs, sondern die ganzen Gemeinden an Entscheidungen beteiligt. Diese Mitsprache verloren sie in der Kolonialzeit.

Kulturzerstörung durch Kirchen und Kolonialstaat

Matlhogonolo (Matty) Samsam: Gleichzeitig hatte das Christentum massive Auswirkungen auf die Politik, Gesellschaft und Kultur. Das hat bis heute Folgen. Zwar ist Botswana offiziell ein säkularer Staat, aber faktisch geht es um christliche Moral. So gab es viel Kritik von christlichen Kirchen, als Homosexualität entkriminalisiert wurde.

In vorkolonialer Zeit mischte man sich nicht in das Privatleben der Nachbar*innen ein, die Gesellschaft war gender-fluide. Wir musten uns nicht definieren, wer wir sind. Mit der christlichen Missionierung während der Kolonialzeit wurde „indecent sex“ kriminalisiert. Kolonialstaat und Kirchen drangen in unser Privatleben ein und schrieben uns Gender-Ausdrucksformen vor. Zudem beschränkten sie diese und diskriminierten uns. Plötzlich wurde von uns verlangt, uns zu definieren.

Unsere Bildung wurde in der Kolonialzeit (in Missionsschulen) ebenfalls drastisch verändert. Mündliche Überlieferungen, das Geschichtenerzählen und die praxisorientierte Bildung wurden als rückständig abgewertet und abgeschafft.

Das Christentum hat unsere Kultur mit Moral überformt, deshalb gibt es so viel Homophobie, queere Identitäten wurden unterdrückt. Alles wurde auf den Mann und sein Verhältnis zu Frauen ausgerichtet. Deshalb sind LBQ Menschen nun mit vielen Formen der Unterdrückung konfrontiert. Auch die Individualisierung wurde uns aufgezwungen. Unsere Gemeinschaftsorientierung wurde uns genommen. Die besagte: „Ich bin, weil Du bist.“

Nachkoloniale Kämpfe gegen den Ausschluss von LBQ Frauen

Matty_Samsam_Decolonize, Copyright Matlhogonolo Samsam

Matlhogonolo (Matty) Samsam: Wir wollen uns die Narrative wieder aneignen und afrikanische feministische Geschichten erzählen, LBQ Menschen eine Stimme geben. Das betrifft die internationale Ebene und UN-Mechanismen. Wir Basisaktivist*innen wollen nicht nur am Rande Berichte einreichen, sondern mitentscheiden, über welche Themen berichtet wird.

Auch bei Programmen gegen gender-basierte Gewalt wollen wir nicht weiter ausgeschlossen werden. Diese Programme sind bislang nur für heterosexuelle Frauen. Problemtisch ist auch die Beschränkung gesundheitlicher Programme und damit verbundener Fördergelder auf Männer, die Sex mit Männern haben. Von solchen Programmen und Projekten werden LBQ-Frauen ausgeschlossen.

Zwar ist die koloniale Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität seit 2019 durch einen Gerichtsentscheid des höchsten Gerichts (High Court) abgeschafft, das betrifft aber nur Männer. Wenn wir als lesbische Paare uns öffentlich die Hände halten und einem Christen das nicht paßt, kann er uns mit Bezug auf das „anti decency law“ anzeigen. Das ist ein Beispiel für rechtliche Ungleichheit.

Wir brauchen also Basisprogramme und Fördergelder, über die wir selbst bestimmen können, denn wir wissen selbst am besten, was unsere Probleme sind und wie sie gelöst werden können. Trotz der komplizierten Anträge geht es bei Geldern bislang meistens um die Prioritäten der Geber und nicht um unsere eigenen Interessen. Wir wollen die Arbeit aber so durchführen, dass sie für uns sinnvoll ist. Dafür müssen wir zum gemeinschaftlichen Zusammenhalt zurückkehren und die Zerstörungen überwinden, die der Kolonialismus dort angerichtet hat. Er hat uns als Nation verletzt. Als Bewegungen müssen wir das Arbeiten in getrennten Bereichen überwinden und viel mehr miteinander kooperieren.

Koloniale Zerstörungen der Ökonomie

Matlhogonolo (Matty) Samsam: Auch in unsere Wirtschaft griff die Kolonialmacht massiv ein. Denn unsere Rinderzucht (unsere ökonomische Basis) und unsere Diamanten wurden ausgebeutet. Es wurden aber nur Rohstoffe exportiert, keine weiterverarbeiteten Produkte. Das verursachte wirtschaftliche Abhängigkeiten vom globalen Norden und Staatsverschuldung. So müssen wir überteuerte verarbeitete Produkte einkaufen, während wir wegen der Staatsverschuldung nur wenig Geld für die Gesundheitsversorgung haben. Gleichzeitig sind ausländische Fördergelder an Bedingungen gebunden, aber dennoch nicht nachhaltig. Das ist ein endloser Zyklus, der neue Abhängigkeiten schafft. Demgegenüber wollen wir Gemeinden stärken, damit sie selbst die Möglichkeit erhalten, nachhaltig zu wirtschaften.

Dekolonisierung als Prozess — Wiederaneignung der Kultur durch LBQ Frauen

Matty_Samsam_Decolonize, Copyright Matlhogonolo Samsam

Matlhogonolo (Matty) Samsam: Wir schauen uns Themen an, die diese direkt betreffen. Und wir brauchen Frauen in Machtpositionen sowie politische Leitlinien, deren positive Wirkungen die Menschen spüren. Wir müssen also darüber nachdenken, was Empowerment bedeutet.

Bewußtsein über Dekolonisierung – das sind große Worte, die müssen wir auf die Ebene normaler Bürger*innen in Botswana bringen. Denn der Kolonialismus ist hier lange vorbei, hat aber dennoch bis heute negative Auswirkungen.

Ähnliches betrifft Feminismus und queeres Leben in Botswana. Wir nutzen Kultur und Kunst, um unsere Erfahrungen zu vermitteln. Damit Menschen mit unserer Freude und unseren Herausforderungen vertraut werden. Mit Visualisierungen schaffen wir Anknüpfungspunkte. Und damit beanspruchen wir künstlerische Ausdrucksformen und das Geschichtenerzählen, also mündliche Traditionen, die wir zurückfordern und wiederaneignen, da uns all das in der Kolonialzeit genommen wurde. Wir nutzen diese Erzählungen auch für unsere Advocacyarbeit.

So veranschaulichen wir, was es bedeutet, wenn LBQ Frauen von Anti-Gewaltprogrammen der Frauenbewegung, von reproduktiver Gesundheit, reproduktiven Rechten, Landrechten ausgeschlossen sind. All diese Rechte sind aber ganz wichtig und sollten nicht isoliert gesehen werden.

Folglich kann nicht über Feminismus gesprochen werden, ohne wirtschaftliche Aspekte und Probleme der Ernährungssicherung zu beachten, wenn Sorgen wegen Nahrungsmittelmangel und der Ernährung Deiner Kinder auf Dir lasten.

Und wir wollen dokumentieren, wie wir die Selbstbestimmung gestalten. Das lernen wir von LBQ Frauen in Namibia, die im Bereich der Dokumentation schon viel erarbeitet haben. Wir kooperieren dazu mit ihnen.

Dekolonisierung ist kein finales Ziel, sondern ein Prozess, ein Weg; es geht um das Lernen und Verlernen. Die Dekolonisierung ist ein Schritt zu Freiheit und Menschenrechten für alle Menschen.

Cornelia Sperling: Was kann ein einzelnes Individuum hier im globalen Norden zur Dekolonisierung beitragen?

Matty_Samsam_Decolonize, Copyright Matlhogonolo Samsam

Amplify their voices!“ Hört afrikanischen Aktivist*innen zu und verstärkt ihre Stimmen. Gebt Aktivist*innen Plattformen zum Austausch, damit wir für uns selbst sprechen können. Es ist wichtig, dass Ihr unsere Erfahrungen versteht, wie wir arbeiten und unsere Zukunft und uns in Partnerschaften engagieren wollen. Das ist auch ein Anfang von Partnerschaften. Holt nicht Leute vom globalen Norden, die den globalen Süden belehren. Wir aus dem globalen Süden kennen und verstehen am besten unsere Kultur und Erfahrungen. Deshalb wissen wir, was kulturell angemessen ist. Als Aktivist*in im globalen Norden solltest Du Dich fragen, welche dortigen feministischen Vorstellungen Du reproduzierst. Oder bist Du situationsspezifisch? Willst Du über reproduktive Rechte sprechen, obwohl der Landzugang vor Ort viel wichtiger für LBQ Frauen ist? Wollen sie beispielsweise Agroforstwirtschaft auf eigenem Land beginnen, um wirtschaftlich selbstständig zu sein, um Einkommen und Arbeitsplätze für LBT-Frauen und sichere Orte zu schaffen?

Cornelia Sperling: Wenn wir in Partnerschaften arbeiten, können wir Machtasymmetrien nicht ignorieren. Was heißt das für Dich?

Sobald es um Geld und Geber geht, spielen Machtdynamiken mit. Die Geber haben bestimmte Erwartungen, an die Du Dich halten musst. Doch Du willst eigentlich die Arbeit leisten, die Dir wichtig ist. Als Black Queer DocX hatten wir immer nur Geld für die Dinge, die wir wirklich tun wollten. In Folge des Masakhane Projektes, konkret des Autonomie Projektes und der Arbeit in Kollektiven, haben wir speziell als LBQ Women Black Queer DocX gegründet. Basierend auf dem wenigen Geld, das wir hatten, haben wir uns offiziell registrieren lassen und konnten uns hier in Botswana mit Aktivist*innen aus Namibia treffen.

Machtdynamiken zwischen schwarz und weiss können unangenehm sein. Hier geht es aber um einen wichtigen Austausch für die LBQ Bewegung und die Menschenrechtsarbeit.

Partnerschaften zwischen Lesben aus dem südlichen Afrika sind uns wichtig, wir teilen Ressourcen und wir kooperieren. Wir treffen uns zum Beispiel beim Lesbenfest in Namibia; dort feiern wir und zelebrieren unsere Kreativität. Das trägt zu unserem Wohlbefinden bei.

Dr. Rita Schäfer, freiberufliche Afrikawissenschaftlerin

Ein Artikel im Rahmen des Projekts Kulturen und Kolonialismus — Der Kampf um die Menschenrechte von LSBTIQ* im Licht der Debatte um Dekolonisierungder Hirschfeld-Eddy-Stlftung.”

BMJ
HES


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