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Dekolonisierung – aber wie? Menschenrechte für LGBTIQ+ im südlichen Afrika — Namibia

Matlhogonolo Samsam, Black Queer DocX Botswana
Einladung/Invitation

Florence F/Khaxas, Y‑FEM Namibia

Der Webtalk zu “Decolonize but how? Commitment for the Human Rights of LGBTIQ+ in Southern Africa“ fand am 26.11.2024 auf Englisch statt.

Florence F/Khaxas vom Y‑FEM Young Feminists Movement Namibia erklärte während dieses Gesprächs ihre Erfahrungen, Konzepte und Forderungen zu den weitreichenden Folgen des Kolonialismus und dessen Überwindung in Namibia. Dieser Blog-Text thematisiert zentrale Erläuterungen, Einschätzungen und Forderungen.

An dem Online-Talk nahm auch Matlhogonolo Samsam von Black Queer DocX aus Botswana teil, wesentliche Aussagen dokumentiert der Blog-Beitrag zu Botswana.

Cornelia Sperling, FLiP – Frauenliebe im Pott e.V. und Unterstützerin des Masakhane Projektes, moderierte. Veranstalter*innen waren engagement global gGmbH, Außenstelle Mainz, vertreten durch die Koordinatorin Hanna Hees, und die Hirschfeld Eddy Stiftung.

Sarah Kohrt, Leiterin des Projektes „Kulturen und Kolonialismus“ der Hirschfeld Eddy Stiftung, stellte einführend den thematischen Kontext her.

Ihre Schlüsselfragen betrafen die Advocacy-Arbeit und den Kampf für Menschenrechte im südlichen Afrika. Wie gehen Menschenrechtsverteidiger*innen vor? Denn ihnen wird oft unterstellt, neokolonial zu agieren, obwohl die homophoben Gesetze, die sie abschaffen wollen, Erbe des Kolonialismus sind.

Das betrifft Namibia, eine frühere deutsche Kolonie, wo das höchste Gericht (High Court) im Juni 2024 das seit der Kolonialzeit geltende Verbot gleichgeschlechtlicher Handlungen widerrufen hat. Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus für die transkontinentale Solidarität und für Allianzen? Wie kann die Dekolonisierung deutscher (Entwicklungs-)Zusammenarbeit vorangebracht werden?

Deutsche feministische Außen- und Entwicklungspolitik dekolonisieren

Sarah Kohrt erläuterte: Der europäische Kolonialismus verbreitete im 18. und 19. Jahrhundert rigide Geschlechterrollen und kriminalisierte gleichgeschlechtliche Beziehungen. Vorkoloniale Kulturen mit diversen Gender-Identitäten wurden unterdrückt. Zwar gibt es auf internationaler und multilateraler Ebene und in etlichen Ländern viele Fortschritte zur Entkriminalisierung des queeren Lebens und der LSBTIQ+ Menschenrechte. Doch gleichzeitig stemmen sich konservative Kräfte gegen die emanzipatorischen Bewegungen und setzen damit Menschenrechtsverletzungen fort. Oft werden diese Kräfte von fundamentalistischen Gruppen aus dem globalen Norden unterstützt, etwa von Evangelikalen aus den USA, der russisch-orthodoxen Kirche und dem Vatikan.

Bezugnehmend darauf spannte Sarah Kohrt einen weiteren Diskussionsrahmen: In diesem Spannungsfeld gibt es eine bemerkenswerte dekoloniale feministische Entwicklungs- und Außenpolitik, die ausdrücklich queere Menschen inkludiert. Dieser positive Wandel fand nur statt, weil die deutsche Zivilgesellschaft ihn forderte. Paradoxerweise wird die feministischen Advocacyarbeit für Frauen- und LSBTIQ+ Menschenrechte dennoch als neokolonial diskreditiert. So stellt sich die Frage nach transkontinentaler Solidarität und wie die Arbeit für Frauen und LSBTIQ+ dekolonial sein kann. Wie soll die internationale Kooperation dann aussehen?

Cornelia Sperling: Florence F/Khaxas ist Gründerin und Direktorin von Y‑FEM Young Feminists Movement Namibia Trust. Bitte stell Deine Arbeit als Aktivist*in und LBQ-Forscher*in vor.

Florence Khaxas Decolonize and transform policies, Copyright Florence F/Khaxas

Florence F/Khaxas: Wir haben mit dem historischen Kontext begonnen, dort setzte unsere Bewusstseinsarbeit mit Frauen 2009 an. Den Hintergrund dazu bot die lebendige Frauenbewegung mit viel beeindruckendem Aktivismus in Namibia. Sie hatte für die Verbesserung der politischen Partizipation und Repräsentation gekämpft und ein Frauenmanifest verfasst, doch in der Praxis ist die Umsetzung des Quotensystems schwierig. Wir wollten junge und queere Frauen auf dem Land und in Städten zu erreichen, damit sie für sich selbst sprechen konnten. Es ging um Probleme, die sie verletzten. Junge indigene und queere Frauen sind von der politischen Partizipation und Repräsentation ausgeschlossen. Ihre Stimmen werden nicht gehört, sie sind nicht in Führungsfunktionen. Wir wollten die Regierung überzeugen, dass es wichtig ist, sie einzubeziehen und ihr Schutz sollte Priorität haben.

Die Problemursache dafür sind der Kolonialismus und die daraus resultierenden Politiken, die nach der politischen Unabhängigkeit übernommen wurden und LSBTIQ Menschen bis heute diskriminieren. Wir haben eine feministische Policy Analyse in Namibia veröffentlicht, darin geht es um diese Probleme und das traditionelle Recht. Ein wichtiges Ergebnis unserer Forschung war: Für Lesben ist der Zugang zu Land das größte Thema. Es ist verbunden mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Gesundheit, mit der Schaffung eigenen Einkommens.

Wirtschaftliche und rechtliche Diskriminierung

Florence F/Khaxas: Die hohe (Jugend-)arbeitslosigkeit von über 50% ist ein Problem. Viele Parteien werben zwar mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, doch dabei werden queere Menschen diskriminiert. Parteien nutzen Hassreden gegen queere Menschen und fördern damit die Diskriminierung, etwa von Lesben beim Zugang zum Gesundheitssystem. Das betrifft unsere reproduktive Gesundheit und reproduktiven Rechte. Doch diese Diskriminierung und die steigende Gewalt vor allem gegen Lesben und TransMenschen werden wegen struktureller Hindernisse nicht dokumentiert. Wir erhalten keine Gerechtigkeit.

Eine weitere Folge des Kolonialismus ist die mangelnde Finanzierung von Frauenrechtsorganisationen und queeren Organisationen, deshalb bilden wir unsere eigenen Zusammenschlüsse. Wir müssen uns anders organisieren als bislang, die Machtverhältnisse verschieben und neue Allianzen knüpfen.

Dekolonialer Femismus — Stärke wiedererlangen

Florence F/Khaxas: Deshalb haben wir neue Verbindungen mit unseren Müttern und Großmüttern aufgebaut, um im Rahmen eines dekolonialen Feminismus die Stärke wiederzuerlangen, die unsere Vorfahren hatten. Wir haben also in unseren eigenen Communities geforscht, um herauszufinden, was ihre Themen waren. Dabei lernten wir ihre Traumata kennen, die wir noch nicht kannten. Das, was sie durchgemacht hatten, war auch für uns ziemlich traumatisch. Wir sprachen über geschlechtsspezifische Gewalt und wie diese sich auf unsere Beziehungen auswirkt. Nun können wir schauen, in welche Richtung wir gehen wollen.

Florence Khaxas Decolonize and transform policies, Copyright Florence F/Khaxas

Und wir setzen uns auch mit der Wirkung unserer Arbeit auseinander und wie wir uns anders organisieren können, dazu berücksichtigen wir die Wirkungen, die das Women’s Leadership Centre (in Windhoek) und die Coalition of African Lesbians (CAL in Johannesburg) mit der Schaffung von sicheren Orten hatten. Wir fordern mehr Schutz und Unterstützung für zivilgesellschaftliche Bewegungen, damit wir das Schrumpfen der Zivilgesellschaft stoppen können.

Cornelia Sperling: Bitte erläutere Gender-Vielfalt und sexuelle Diversität in vorkolonialer Zeit.

Florence F/Khaxas: In vorkolonialer Zeit hatten Frauen Führungspositionen in Familien und Gemeinschaften. Sie waren an Entscheidungsprozessen beteiligt. Ihre Stimmen wurden respektiert. Das betraf Namibia und das südliche Afrika, also die heutigen SADC-Länder (SADC — Wirtschaft- und Entwicklungsgemeinschaft im südlichen Afrika). Das endete mit den christlichen Missionaren. Die sprachen nur mit Männern. Frauen wurden verdrängt. Nun entschieden Männer, zum Beispiel über die Landverteilungund das Erbe. Queere Frauen haben keinen Zugang mehr zum Land und zu Landrechten. Wir werden nicht mehr respektiert. Das schlägt sich auch in der Politik nieder.

Die Missionare schafften auch Freundschaft und Liebe zwischen Frauen ab. Seitdem wird die Sexualität von Frauen ausradiert. Und das historische Wissen darüber ging verloren. Das müssen wir uns wieder aneignen. All das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über Reparationen sprechen.

Gewalt gegen queere Frauen trotz Rechtsreformen

Florence F/Khaxas: Zwar gibt es Rechtsreformen, so wurde das Sodomiegesetz abgeschafft, weil couragierte Aktivist*innen sich dafür eingesetzt hatten und die Regierung zur Rechenschaft zogen. Aber gleichzeitig steigt die Mordrate an Lesben; geschlechtsspezifische und sexualisierte Gewalt eskaliert, auch in Folge religiös motivierter Hassreden. Davon sind die Vertreter der Justiz beeinflusst, die Menschenrechte von queeren Frauen werden also vielerorts angegriffen und nicht geschützt.

Das betrifft auch die harten Realitäten von Lesben, die schädlichen kulturellen Praktiken ausgeliefert sind. Oft werden sie gekidnappt, an abgelegene Orte verschleppt und müssen dort so genannte korrigierende Rituale von Heilenden über sich ergehen lassen. Denn ihnen wird unterstellt, von bösen Geistern besessen zu sein. Sie verlieren ihren Zugang zu Bildung und ihre Einkommensmöglichkeiten. Sie werden ihrer Würde beraubt. Deshalb sind sichere Schutzhäuser wichtig; wir unterstützen Frauen, die in Gefahr sind.

Cornelia Sperling: Wovon Träumen LBQ Frauen beim Zugang zu Land? Wie ist Landbesitz mit dem Schaffen von Jobs verbunden?

Florence F/Khaxas: Wir haben mit der Unterstützung von Geber*innen Land erhalten und sind nun Landbesitzer*innen. Damit veränderte sich alles: Unsere Sicherheit, unsere Art zu arbeiten und uns zu organisieren, unsere Visionen und Träume. Zuvor waren wir in einem sehr unsicheren Umfeld und standen buchstäblich auf der Straße, unser Büro wurde uns gekündigt. Unser radikaler lesbischer Aktivismus und unsere mit Stolz geleistete Arbeit für die Rechte von Lesben wurden als bedrohlich wahrgenommen. Das beeinträchtigte unsere Arbeit und war nicht nur emotional anstrengend. Auch unsere eigene Sicherheit war bedroht.

Mit eigenem Land eine feministische Ökonomie aufbauen

Florence F/Khaxas: Mit eigenem Land können wir nun unsere großen Visionen verwirklichen. Nun haben wir die Freiheit, darüber nachzudenken, wie wir zukünftig leben, arbeiten und uns als queere feministische Bewegung organisieren wollen. Wir wollen wirtschaftliche Nachhaltigkeit und eigenes Einkommen. Um Arbeitsplätze zu schaffen, werden wir auch Kontakte mit Unternehmen herstellen. Das ist für uns wichtig in einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, Geld von Gebern zu erhalten. Solche Gelder sind immer an Vorgaben gebunden.

Florence Khaxas Decolonize and transform policies, Copyright Florence F/Khaxas

Nun können wir eine feministische Ökonomie aufbauen. Wir übernehmen Verantwortung für das Land und wollen es nachhaltig nutzen, denn wir wollen unsere Nahrungsmittel selbst anbauen. Wir wollen ein eigenes Ökosystem schaffen und dafür auch mit traditionellen Autoritäten kooperieren, denn es ist customary land. Wir müssen uns mit den Folgen des Klimawandels auseinandersetzen, die in Namibia und im ganzen südlichen Afrika schon ersichtlich sind. Nachhaltigkeit ist der Schlüssel, damit wir uns alle entfalten und weiterentwickeln können. Wir können zeigen, was feministische Solidarität bedeutet, indem wir sinnvolle Beziehungen aufbauen und LBQ Frauen in Krisen umfassender unterstützen.

Cornelia Sperling: Welche Rolle spielt der internationale Tourismus für Euch und wie wichtig sind LSBTIQ Reisende?

Florence F/Khaxas: Wir haben großes Interesse an LSBTIQ Tourist*innen, denn wir wollen Arbeitsplätze für LBQ Frauen im Tourismussektor schaffen. Grundlage für ökonomische Selbstständigkeit sind strategische Partnerschaften, zum Beispiel mit der Arts and Crafts Association in Namibia. Sie bietet Kurse in Handwerkstechniken an, zudem kauft sie Kunsthandwerk von jungen queeren Frauen aus ländlichen Gebieten auf und vermarktet es. Es geht also darum, das selbstständige Unternehmer*innentum in dem Bereich zu fördern und eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Deshalb wollen wir solche strategischen Partnerschaften institutionalisieren.

Cornelia Sperling: Die Bundesregierung plant, wegen der deutschen Kolonialverbrechen Gelder für Entwicklungsprojekte an Namibia zu zahlen. Werden LBQ Frauen etwas davon erhalten?

Florence F/Khaxas: Basierend auf unseren Studien mit indigenen LBQ Frauen drängen wir darauf. Doch bislang haben Frauen in den Gesprächen über Reparationen keine Priorität. Frauenorganisationen sind nicht einmal daran beteiligt. Wenn wir uns nicht selbst äußern, werden wir vernachlässigt. Deshalb organisieren wir Frauen auf Community-Ebene und in den Gemeinden, damit wir zukünftig eine starke Advocacy-Basis haben und wirklich einbezogen und gehört werden. Wir dokumentieren ihre Geschichten und auch die aktuellen Exklusionen. Wir sprechen über Gerechtigkeit und Reparationen.

Cornelia Sperling: Wie können Partnerschaften zwischen dem globalen Norden und Süden zur antikolonialen Arbeit beitragen?

Florence F/Khaxas: Partnerschaften sind sehr wichtig für den Aufbau von Solidarität. Ein Beispiel sind unsere monatlichen online-Meetings mit namibischen und deutschen Sistern. Das ist Sisterhood und wirkliche Solidarität auf einer sehr persönlichen Ebene. Denn darin tauschen wir uns darüber aus, wie es uns gerade geht. Als Aktivist*innen stehen wir immer an vorderster Front. Wir werden psychisch und manchmal auch physisch bedroht und wir ertragen viele Belastungen anderer Aktivist*innen. Darüber sprechen wir. Dafür haben wir sonst keine sicheren Rückzugsräume.

Feministische und partnerschaftliche Solidarität über Ozeane hinweg

Florence F/Khaxas: Es geht auch darum, Erfahrungen und Strategien zu teilen und voneinander und miteinander zu lernen. Obwohl wir auf unterschiedlichen Wegen unterwegs sind, können wir unser Wissen und unsere Weisheit miteinander teilen. Das tragen wir auch in unsere Komitees zurück. Wir wissen: Jenseits des Ozeans ist jemand, der uns zuhört. Das ist für unser emotionales Wohlbefinden als Individuen wichtig. Das stärkt uns. Die Gespräche sind ein Beispiel dafür, was Feminismus und Solidarität jenseits der kulturellen Diversität für uns bedeuten. Wir sind fähig, miteinander zu sprechen und uns miteinander zu verbinden.

Florence Khaxas Decolonize and transform policies, Copyright Florence F/Khaxas

Zudem teilen wir künstlerisch-kulturelle Ausdrucksformen: Kunst, Lieder, Musikvideos. Darin erzählen wir auf kreative Art unsere eigenen Geschichten und schaffen damit Verbindungen über die Ozeane hinweg. Das bedeutet uns sehr viel; denn es hilft uns, von Größerem zu träumen. Wir sollten also noch mehr solcher Räume des Ausprobierens, Austauschs und Lernens schaffen. Die vielfältige Erweiterung unserer Bildung hilft uns bei unserer Advocacy-Arbeit und trägt zur Nachhaltigkeit unserer Bewegungen bei.

Hintergrundpapier:

Queer feministisches Organisieren in Vergangenheit und Gegenwart:

Dekolonialisierung und Transformation der Politik in Namibia

Florence F/Khaxas, Y‑FEM Young Feminists Namibia Trust, führte in einem Diskussionspapier aus, wie die Kolonialpolitik Frauen – insbesondere Lesben, bi- und queere Frauen – unterdrückte. Vor dem Hintergrund hob sie die Wirkungen des feministischen Organisierens von sexuellen Minderheiten hervor. Geschlechterbeziehungen in Namibia, konkret der historische Widerstand von Frauen, bilden also den Kontext, der auch die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Landschaft prägt. Es geht um die Zeitspanne seit der kolonialen Unterdrückung der weiblichen Entscheidungsmacht bis zur Demokratie seit der politischen Unabhängigkeit 1990. Zu den nachkolonialen Bemühungen, historisches Unrecht wieder gut zumachen, zählen auch die Politiken zur Reduzierung von Geschlechterdisparitäten. Aber wirtschaftliche Ungleichheiten, Armut und Arbeitslosigkeit betreffen Frauen überproportional. Zwar gilt Namibia als Land mit mittlerem Einkommen, doch viele gesellschaftlich marginalisierte Frauen profitieren nicht vom ökonomischen Fortschritt. Zudem hat die HIV/AIDS-Epidemie über Jahrzehnte Frauen geschadet, die Geschlechterhierarchien verstärkt und das Gesundheitssystem zusätzlich belastet.

Politische Partizipation und Macht

Für Geschlechtergerechtigkeit im politischen Entscheidungssystem und beim Regieren ist es entscheidend, dass Frauen partizipieren. Dafür haben einige Parteien ein freiwilliges Quotensystem eingerichtet. Das gilt aber nur auf lokaler und nicht auf nationaler Ebene. Zudem fehlt es an Maßnahmen, um gegen politische Gewalt an Frauen vorzugehen. Die politische Partizipation marginalisierter Frauen, also junger und behinderter Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten, muss gezielt gefördert werden. Zudem sind Fortbildungen für die Übernahme von Führungspositionen notwendig.

Vorkoloniales Recht

Im Rechtssystem hat das customary law, also das vorkoloniale Recht, noch immer einen hohen Stellenwert, denn es wirkt sich auf Frauenrechte und die Geschlechterbeziehungen aus. So gibt es Ungleichheiten im Landbesitz und Erbrechte, in traditionell geschlossenen, beispielsweise polygamen Ehen. Frauen haben nur eingeschränkten Zugang zu traditionellen Gerichten. Deshalb muss die Partizipation und Repräsentation von Frauen in traditionellen Führungsstrukturen und Entscheidungsprozessen und ihr Zugang zur traditionellen und staatlichen Justiz verbessert werden. Frauen müssen Land- und Erbrechte in kommunalen Gebieten erhalten; beim traditionellen Recht müssen Alter, Ehestatus und sozio-ökonomische Situation von Frauen beachtet werden.

Wirtschaftspolitik

Die Wirtschaftspolitik wirkt sich auf Geschlechtergerechtigkeit und Frauen-Empowerment aus: Zwar wurde der Anteil von formal beschäftigten Frauen erhöht, doch sie sind vor allem in gering bezahlten Jobs überrepräsentiert. Kleinunternehmerinnen fehlt der Zugang zu Märkten und Krediten. Trotz allgemein sinkender Armutsraten sind Haushalte, die von Frauen geleitet werden, stärker von Armut betroffen als Haushalte unter männlicher Leitung. Zwar stieg die Einschulungsrate von Mädchen in Folge höherer Bildungsausgaben, doch das verbesserte noch nicht ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten. Es gibt zu wenig systematisches Gender-Mainstreaming in der Wirtschaft. Wirtschaftspolitik widmet sich zu wenig dem informellen Sektor, obwohl Frauen vor allem dort tätig sind. Zudem sollten ungleiche Land- und Besitzrechte für Frauen wirtschaftspolitisch angegangen werden. Wirtschaftliche Empowerment-Programme müssen intersektional angelegt sein und multiple Formen von Diskriminierung beachten, um Landfrauen, Behinderte und LSBTIQ+ Individuen einzubeziehen.

Reproduktive Gesundheit und Rechte

Namibia hat politische Leitlinien zu sexueller und reproduktiver Gesundheit erlassen, die für Frauen-Empowerment und Geschlechtergleichheit grundlegend sind. Doch diese Vorgaben thematisieren die spezifischen Bedürfnisse von LSBTIQ+, Sex Arbeiter*innen und Behinderten nicht. Deshalb sind umfassende Maßnahmen, etwa Policies und deren Umsetzung im Bildungssektor erforderlich, damit in der Sexualkunde junge Leute, vor allem Mädchen mit Wissen über ihre Rechte und ihre Körper gestärkt werden.

Gewaltschutz

Im Kampf gegen sexuelle und geschlechterbasierte Gewalt, die vor allem Frauen und Mädchen sowie sexuelle Minderheiten betrifft, hat Namibia verschiedene Gesetze und politische Leitlinien verabschiedet: das Anti-Vergewaltigungsgesetz von 2000 und das Gesetz gegen häusliche Gewalt von 2003, doch es gibt kaum Strafverfolgung und Verurteilungen. Aufgrund gesellschaftlicher Einstellungen wird den Opfern oft die Schuld zugeschrieben, so wird die Gewalt gegen Frauen normalisiert. Zudem erfassen die Gesetze nicht die besondere Verletzlichkeit von LSBTIQ+Individuen, von Sex Arbeiter*innen und Behinderten, auch die Cybergewalt wird nicht beachtet. Um so wichtiger sind intersektionale Strategien, die das ändern.

Rechte sexueller Minderheiten

Namibias politische Landschaft zu sexuellen Minderheiten ist komplex und oftmals widersprüchlich. Dabei sind die Politiken, die sexuelle Minderheiten betreffen, entscheidend für Geschlechtergleichheit und Menschenrechte. Die namibische Verfassung von 1990 verbietet Diskriminierung auf der Basis von sex, nennt aber nicht ausdrücklich sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität. Das Arbeitsrecht von 2007 verbietet immerhin Diskriminierung auf der Basis von sexueller Orientierung. Es gibt aber keine spezifischen Gesetze zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen. Dieser mangelnde Rechtsschutz und die aktuelle politische Landschaft wirken sich signifikant auf LSBTIQ+ Individuen in Namibia aus. Das betrifft gesellschaftliche Diskriminierung und Stigma, Ungleichheiten im Gesundheitssystem, wirtschaftliche Verletzlichkeit, das Familienrecht, vor allem das Erb- und Adoptionsrecht sowie die Gewalt gegen LSBTIQ+ Individuen, etwa gegen Transfrauen, zumal Hassgewalt kein Straftatbestand ist. Da der Schutz vor Diskriminierung nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert ist, sind LSBTIQ+ Individuen mit Diskriminierung beim Zugang zu Wohnraum und Bildung konfrontiert, Mehrfachdiskriminierung bleibt ebenfalls unbeachtet. Um so wichtiger sind entsprechende Verfassungsänderungen, die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Schutzgründe in die Anti-Diskriminierungsklausel aufnehmen. Entsprechende Änderungen zum Schutz vor Nicht-Diskriminierung wären in einem umfassenden Gleichheitsgesetz notwendig. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sollten ebenfalls rechtlich anerkannt werden.

Young Feminist Movement (YFEM) — Bedeutung queerer feministischer Bewegungen in der Advocacy Arbeit und zum Abbau kolonialer Politik in Namibia

Das Young Feminist Movement (YFEM) wurde 2009 von Florence F /Khaxas in Swakopmund gegründet. Es entstand aus einer Analyse der Situation von Mädchen in der Erongo Region. Zunächst gab es dort in zehn Dörfern und Städten Treffen zur feministischen Bewusstseinsbildung. Als Probleme wurden Armut und Arbeitslosigkeit, Mangel an Bildung und Möglichkeiten, HIV/AIDS, Sex Arbeit, reproduktive und sexuelle Gesundheit und sexuelle Belästigung thematisiert. Teenagerschwangerschaften und ungewollte Schwangerschaften, frühe Zwangsverheiratungen, häusliche Gewalt und Inzest wurden mit Schulabbruch und unsicheren Abtreibungen in Verbindung gebracht. Auch mangelnde Führungskompetenzen junger Frauen waren ein Thema.

Diese feministische Analyse, das Entwickeln und Testen von Problemlösungen in der Region stärkte die Kapazitäten von YFEM zu Konfliktlösungen, wirtschaftlichem Empowerment, HIV-Prävention, reproduktiver Gesundheit und Menschenrechten. Im Lauf der Jahre hat YFEM aktiv Advocacy-Arbeit für Lesben, indigene und ländliche Cis und Trans-Jugendliche, junge nicht binäre Menschen und HIV-positive Frauen geleistet. Sie und ihre Organisationen sollen in einem sicheren und gerechten Umfeld leben. YFEM ist flexibel, innovativ und couragiert, ihre Organisationsstruktur ist darauf ausgerichtet, ständig Macht an junge Feministinnen zu übertragen, damit sie ihr Leben selbst analysieren und ein eigenes feministisches Wissensnetz schaffen können. Mit einem indigenen feministischen Wissensnetz in Namibia können wir Diskriminierung und Unterdrückung im Patriarchat analysieren.

Dr. Rita Schäfer, freiberufliche Afrikawissenschaftlerin

Ein Artikel im Rahmen des Projekts Kulturen und Kolonialismus — Der Kampf um die Menschenrechte von LSBTIQ* im Licht der Debatte um Dekolonisierungder Hirschfeld-Eddy-Stlftung.”

BMJ
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