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Die pinke Linie

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Im April 2021 erscheint Mark Gevissers faszinierendes Buch „Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität“.

Gevisser, 1964 in Johannesburg geboren, gilt als einer der wichtigsten Autoren Südafrikas. Er publiziert in den Leitmedien seiner Heimat zu politischen und kulturellen Themen der Regenbogennation. Mit einem Stipendium der Open Society Foundation bereiste er über zwanzig Länder und schrieb Artikel über LSBTI und deren Kämpfe in aller Welt. „The Pink Line“ erschien letztes Jahr in den USA.

Die Kapitel wechseln zwischen klassischer Auslandsreportage, Reisebericht und Essays zu Themen wie neue globale Kulturkriege, LSBTI und Sündenböcke oder Schreckgespenst der Gendertheorie. Das Buch über den globalen Kampf für LSBTI-Rechte ist eine außergewöhnliche Langzeitstudie. Über Jahre hat der Autor den Kontakt zu seinen Gesprächspartner*innen, die entlang der LSBTI-politischen Bruchlinien leben, die Gevisser als pinke Linien bezeichnet, durch regelmäßige Besuche und über Facebook und Skype aufrechterhalten.

Mark Gevisser

Die Idee zum Buch kam Gevisser, kurz nachdem er und sein Partner 2009 in Kapstadt geheiratet hatten. Sie kamen in den Genuss von Vorteilen wie sie Eheleuten zustehen, etwa im Steuer- oder Rentenrecht. 2010 kam es in Malawi zur angeblich „ersten Schwulenehe“, einer von den Behörden als illegal angesehenen Hochzeitsfeier, die für großen Wirbel in dem kleinen Land sorgte. Tiwonge Chimbalanga und Steven Monjeza wurden verhaftet und nach einem erniedrigenden Prozess wegen „widernatürlichen Verhaltens“ zu 14 Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt. Wegen der internationalen Proteste wurden sie ein paar Monate später freigelassen. Die Kluft zwischen dem, was die Ehe Gevisser und seinem Mann bescherte und dem, was die erste „Schwulen-Hochzeit“ dem malawischen Paar einbrachte, bezeichnet der Autor als eine pinke Linie.

Er geht den Dingen auf den Grund: Sein Buch beginnt und endet mit der trans* Frau Tiwonge oder Aunty, wie sie überall genannt wird. Sie lebt in einem Township bei Kapstadt, wohin sie nach ihrer Freilassung geflohen ist. Gevisser besucht sie häufig, die beiden schließen Freundschaft. 2014 fährt er nach Malawi, recherchiert in Auntys Dorf, lernt ihr altes Umfeld kennen. Er spricht mit Verwandten und Bekannten, mit der malawischen Journalistin, die seinerzeit über die Hochzeit berichtet hatte. Er wollte verstehen, wie Aunty in ihrem Dorf gelebt hatte, bevor sie ihre chinkhoswe, die traditionelle Verlobungszeremonie, feierte.

Mark Gevisser, Die pinke Linie © Fiona McPhersonSuhrkamp Verlag

Aunty war bei ihrem Onkel groß geworden, der sie nach dem Tod der Eltern adoptiert hatte. Zwar wurde sie mit einem männlichen Körper geboren, aber alle akzeptierten sie als Mädchen. Sie habe sich immer um die anderen Kinder gekümmert, kochte, passte auf, machte den Haushalt. Die Familie habe sie bald für „verhext gehalten, weil sie zu einem Mann heranwuchs, aber nie irgendein Interesse an Frauen zeigte.“ Fortan trägt sie Frauenkleider. 2009 lernt sie Steven Monjeza kennen, sie geben bald ihre Verlobung bekannt. Einige Monate später hält das Paar seine chinkhoswe ab und wird schließlich wegen „widernatürlichen Verhaltens“ verhaftet.

Gift Trapence und seine NGO Center for the Development of People (CEDEP) hatten mit ausländischer Unterstützung eine Kampagne zur Entkriminalisierung von Homosexualität in Malawi durchgeführt, waren bei der stockkonservativen Regierung aber auf taube Ohren gestoßen, die sich vielmehr an der Ideologie US-amerikanischer Evangelikaler orientierte. Nach Auntys und Stevens Verhaftung dachte man in den Behörden offenbar, CEDEP habe die Verlobungsfeier mit ausländischer Unterstützung allein zu dem Zweck organisiert, um die Stimmung zu testen und die Regierung zu provozieren. Dabei hörte man bei CEDEP erstmals von der chinkhoswe, als die Presse am folgenden Tag mit der Schlagzeile „Schwule verloben sich“ aufmachte. Aunty sagte Trapence später, wenn sie gewusst hätte, was passieren würde, hätte sie die Feier nicht durchgeführt. Trapence sagte Gevisser, Aunty sehe sich als heterosexuelle Frau, nicht für einen schwulen Mann, weshalb sie in der Feier auch kein Problem gesehen habe.

Als David Cameron 2011 in Erwägung zog, Entkriminalisierung von Homosexualität zur Voraussetzung für die Fortsetzung der britischen Entwicklungszusammenarbeit zu machen, führte dies nicht nur zu einem Aufschrei mehrerer afrikanischer Präsidenten, die hinter dem Ansinnen, sich für die Reform von Strafgesetzen einzusetzen, für die man sich verantwortlich fühlte, eine neue neokoloniale Einmischung witterten. Das Vorhaben führte auch zu einem Anstieg homophober Gewalttaten in den ehemaligen Kolonien, wo LSBTI-Aktivist*innen von Politiker*innen und Medien zu Sündenböcken gemacht wurden, wie in Malawi.

Im Globalen Norden macht Gevisser mittlerweile „ein Abklingen des Kulturkrieges im Zusammenhang mit Homosexualität“ aus, die zunehmend als „neue Normalität“ betrachtet werde. Der Kampf habe sich verlagert auf das Feld der Geschlechtsidentität, die neue pinke Linie oder Kampfzone seien die Rechte von trans* Menschen. Diese Kämpfe verfolgt Gevisser im Detail und über Jahre hinweg auch in Michigan oder Südindien, wo er junge trans* Menschen bzw. Hijras, „wie sich Transmenschen oder Angehörige des dritten Geschlechts in Indien seit Jahrtausenden nennen“ kennenlernt. In Tamil Nadu freundet er sich zudem mit einer Gruppe von Kothis an, die meist in ländlichen Gegenden leben, sich als Frauen empfinden und dennoch meist Männerkleidung bevorzugen und keine körperverändernden Eingriffe anstreben. Auch hier porträtiert er seine Protagonist*innen mit großer Empathie.

In Moskau lernt Gevisser Pascha kennen, die sich als genderqueer bezeichnet und ebenfalls „Opfer auf dem Schlachtfeld an der pinken Linie“ wird. Pascha lässt sich von Julia scheiden und verliert so ihren Sohn Jarik. Der berichtet dem Autor, dass „meine Mama nicht erlaubt, dass ich Papa besuche, weil er mich mit seiner Krankheit anstecken könnte.“ Obwohl Pascha im Scheidungsurteil ein Umgangsrecht mit Jurik eingeräumt wurde, wird ihr dieses durch die Ex-Ehefrau und ein Familiengericht verweigert. Dabei war Pascha für Jurik der wichtigere Elternteil.

Gevisser schildert, wie die russische Regierung ab 2011, als Putin seine Wiederwahl betrieb, im Wahlkampf nationalistische Töne anschlug, gegen angeblich antirussische, westliche Einflüsse wetterte, eine Anti-LSBTI-Gesetzgebung in Gang setzte und so LSBTI furchtbaren Gewalterfahrungen aussetzte. Pascha wurde als Geisteskranke hingestellt und hatte keine Chance mehr, vor Gericht Recht zu bekommen. Trans* Personen und Homosexuelle wurden auch in den russischen Medien immer mehr ausgegrenzt und als Personen mit einer „Krankheit aus dem Westen“ dargestellt, „die Russland von innen zerstören soll.“

Der Epilog ist optimistisch. Gevisser spricht von einer Vorwärtsbewegung. Es werde besser, er nennt Positivbeispiele wie das indische Urteil zur Entkriminalisierung, Angola, Botswana oder Umfragen aus Nigeria. Der Wandel müsse von innen kommen, Aktivitäten wie die des Trump-Botschafters Grenell in Berlin seien zum Scheitern verurteilt, weil sie kontraproduktiv seien und das Leben queerer Menschen vor Ort schwerer machten.

Mark Gevisser ist ein überzeugender Erzähler. Sein Buch ist zwischen Journalismus und Literatur angesiedelt und weist Elemente des New Journalism oder der lateinamerikanischen Crónica auf. Er erzählt nicht nur von Niederlagen und Rückschlägen der porträtierten Aktivist*innen, sondern auch von ihren Erfolgen, durch die sich Einstellungen verändern, Kopf und Herzen von Menschen erreicht werden. Die glasklare Analyse und engagierte Reportage ist eine lohnende Lektüre, ein Referenzwerk, das Aktivist*innen noch lange beschäftigen wird und dem man breite Aufmerksamkeit wünscht, auch über die LSBTI-Community hinaus.

Klaus Jetz
Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Die HES führt am 22. Juni ein online Gespräch mit Mark Gevisser über die weltweiten Kämpfe entlang der pinken Linie.

Mark Gevisser, Die pinke Linie. Weltweite Kämpfe um sexuelle Selbstbestimmung und Geschlechtsidentität (aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Heike Schlatterer), Berlin (Suhrkamp) 2021, 656 S., 28 Euro.

Links:

Eine Veranstaltung der Hirschfeld-Eddy-Stiftung im Rahmen des Projekts “LSBTI-Menschenrechtsverteidiger*innen.” Alle Blog-Artikel zum Projekt unter dem Tag MRV-2021

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