LSVD Hamburg besucht „Coming Out“ und „Side by Side International Film Festival“
Im Rahmen der Städtepartnerschaft Hamburg — St. Petersburg besteht seit einigen Jahren eine fruchtbare Kooperation zwischen dem LSVD Hamburg und den St. Petersburger Partnerorganisationen Coming Out und Side by Side International Film Festival. Nachdem einige der russischen Aktivist*innen zusammen mit dem LSVD Hamburg im Sommer diesen Jahres auf dem CSD und dem Jugendfestival „Energize your City“ die hanseatische Metropole umgekrempelt hatten, stand vom 21.09 – 27.09.2015 der Gegenbesuch und die Teilnahme am Queerfest 2015 an. Für den LSVD Hamburg reisten Wolfgang Preussner, Barbara Mansberg, Wanja Kilber, Dana Schlichting und Florens Huhn in die russische Stadt an der Ostsee.
Nachdem der ursprüngliche Veranstaltungsort wegen offenkundiger Ressentiments des Eigentümers gegenüber dem Inhalt und der Teilnehmenden geändert werden musste, hatte das QueerFest seine Heimat im modern ausgestatteten LGBT Community Centre gefunden.
Die Organisation „Coming Out“ veranstaltete während des Festivals Themenabende zu Feminismus und sexueller Orientierung. Unbestrittenes Highlight war der Vortrag von Mads Nissen, dänischer Dokumentarfotograf und Gewinner des World Press Photo of the Year 2015, das ein schwules Paar in St. Petersburg zeigt. In seinem Vortrag machte er auf die prekäre Lebenssituation von Menschen aufmerksam, die in Russland gleichgeschlechtlich lieben.
Ein weiterer Fokus der Veranstaltung lag auf dem Museumsprojekt „Unstraight“ – einer gemeinsamen Kooperation von „Coming Out“ und schwedischen Projektpartner*innen. Ulf Peterson stellte den Anwesenden das Konzept des in der Planung befindlichen „Unstraight-Museum“ in Stockholm vor. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass jede Person sich aktiv beteiligen und ihr Verständnis von „unstraight“ mit einbringen kann.
Auch der LSVD Hamburg beteiligte sich aktiv mit einem Vortrag am „QueerFest“ – auf Wunsch der Organisator*innen des Festivals zum Thema Lesben und Schwule & Alter. Barbara Mansberg berichtete über das Leben von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans* und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland, die ihre jungen Jahre hinter sich gelassen haben und sich in der Blüte des eigenen Lebens befinden. In diesem Zusammenhang wurde auch Yvonne Ford, eine der Initiatorinnen von „Lesbischer Herbst“, eines Tagungs- und Netzwerkangebot für Frauen ab 49+, per Videokonferenz live hinzu geschaltet. Alle Teilnehmenden nahmen an der nachfolgenden Diskussion mit großer Freude teil und das, obwohl sie mit einem Durchschnittsalter von unter 30 Jahren nicht gerade zur Zielgruppe des Vortrags gehörten.
Eine Podiumsdiskussion, die von der schwedischen Auslandsvertretung in St. Petersburg organisiert wurde, bildete den krönenden Abschluss des diesjährigen Festivals. Welche Möglichkeiten gibt es, „Good Practice“-Beispiele der lesbisch-schwulen Community aus Schweden auf die Kampagnenarbeit in St. Petersburg zu übertragen? Welche Chancen und Möglichkeiten bestehen für die Aktivist_innen beider Länder, voneinander zu lernen? Diese und andere Fragen standen im Zentrum der Diskussion.
Natürlich wurde auch gefeiert. In den Abendstunden begingen alle Teilnehmenden mit dem Konzert des schwedischen Musikers Oskar Humlebo (Motoboy) den Erfolg des Festivals im St. Petersburger Club „Infinity“.
Neben der Teilnahme am „QueerFest“ war auch der Austausch mit Vereinen und Initiativen der St. Petersburger LGBTI-Community ein wichtiger Bestanteil der Reise des LSVD. In Gesprächen mit Vertreter_innen der Organisationen „Positiver Dialog“ und „Action“ wurde noch einmal deutlich, welche massiven Probleme die Aktivist*innen vor Ort haben, wenn sie sich in der sexualgesundheitlichen Aufklärung engagieren wollen. Die derzeitige russische Gesetzgebung behindert hier massiv die Arbeit von LGBTI-Organisationen.
Die engagierten Menschen von „Positiver Dialog“ berichteten uns, dass es ihnen derzeit nur noch möglich sei, HIV-positive Menschen beim Zugang zu antiretroviraler Therapie zu unterstützen. Das menschenverachtende Gesetz gegen die „Verbreitung von Homo-Propaganda“ mache die eigentlich wichtigere Präventionsarbeit nahezu unmöglich. Statt entsprechende Programme zu fördern, lässt die russische Führung HIV-Medikamente im eigenen Land produzieren, um die Kosten für die Behandlung möglichst gering zu halten. Einzig die Verteilung von gespendeten Kondomen an Sexarbeiter_innen wird von der Verwaltung toleriert – wenngleich es auch hier eine maximal genehmigte Verteilungsmenge gibt. Die im selben Bereich tätige Organisation „Action“ hatte in der Vergangenheit mehrfach versucht, Kampagnen zur öffentlichen Aufklärung durchzuführen, wurde jedoch immer durch staatliche Stellen behindert. Derzeit kann sie sich lediglich darauf beschränken, HIV-positive Menschen zu beraten – alle anderen Aktivitäten könnten eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen.
Besonders aufschlussreich waren auch die Interviews, die der LSVD Hamburg zur Arbeitsrealität von LGBTI Organisationen in St. Petersburg durchführte. Die Interviews sind fester Bestandteil der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und St. Petersburg.
Wir konnten folgende Personen befragen:
Igor Kochetkov, Vorsitzender der überregionalen Organisation „Russian LGBT Network“, die alle in diesem Bereich tätigen Organisationen registriert und vernetzt
Polina Andrianova, LGBTI Aktivistin von „Coming Out“ St. Petersburg
Gulya Sultanova, „Side By Side International Film Festival“ und ehemalige Projektkoordinatorin bei „Coming Out“
Alle drei berichteten übereinstimmend, dass das Gesetz gegen „Propaganda nicht traditioneller Lebensweisen gegenüber Minderjährigen“ Haupthindernis für ihre Menschenrechtsarbeit ist.
Jeder Tag birgt für die mutigen Aktivist*innen das Risiko, aufgrund willkürlich festgesetzter Tatbestände verhaftet oder, wie das Projekt „Children 404“, gleich verboten zu werden.
Die Zusammenarbeit mit dem LSVD Hamburg stelle allerdings trotz ihres offiziellen Charakters weder eine besondere Gefahr noch einen Schutz vor Verfolgung dar. Die Aktivist*innen betonten jedoch auch, dass die Diffamierung Putins und russlandfeindliche Äußerungen im Ausland durch Kooperationspartner für sie ein großes Risiko darstellen würden. Die Kooperation mit ausländischen Vereinen, die Russland und seine Führung massiv kritisieren, könnte durch die russischen Sicherheitsbehörden als Vaterlandsverrat gewertet werden. LGBT Organisationen in Deutschland und Europa sollten bei Kampagnen gegen Russland auch die russischen Aktivist*innen einbeziehen. Der „Do-not-harm“-Ansatz sollte besonders ausländische Aktivist*innen bei ihrer Kampagnenplanung leiten – ein Dialog mit LGBTI-Organisationen im Vorfeld der Kampagnen kann dazu beitragen, die Bedrohung zu minimieren.
Trotz dieser Bedrohungslage zogen alle Interviewpartner_innen eine positive Bilanz. Besonders die Besuche in Hamburg hätten jungen oder desillusionierten Aktivist_innen wieder Kraft und Motivation gegeben, sich weiter für die Menschenrechte von LGBT zu engagieren. Auch die bilateralen Gespräche der Stadt Hamburg mit Aktivist_innen in St. Petersburg seien wichtig und die Aufnahme der Vereinbarung „Sicherung der Menschenrechte“ in das Protokoll zur Städtepartnerschaft ein gutes Zeichen für die dortige Community. Im September war der Erste Bürgermeister Hamburgs, O. Scholz, zu einem Gespräch mit dem Gouverneur, G.S. Poltavchenko, nach St. Petersburg gereist. Er nutzte den Besuch auch, um sich mit Aktivist*innen auszutauschen – Polina Andrianova und Igor Kochetkov waren dabei.
Wir sind sehr froh, unsere russischen Freund*innen besucht zu haben, wenngleich ihre prekäre Situation traurig und wütend macht. Der LSVD Hamburg wird auch zukünftig am Austausch mit St. Petersburg festhalten.
Barbara Mansberg / Wolfgang Preussser
Sprecher_innen des LSVD Hamburg
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