„Coming-out“ in St. Petersburg
Drei kleine Räume im Ligovsky Prospekt – hier sitzt „Vychod“ (Coming-out), eine der bekanntesten Initiativen für Lesben, Schwule, bisexuelle, trans*- und intergeschlechtliche Menschen im russischen St. Petersburg. 2008 gegründet, knapp 16 Jahre nach der Entkriminalisierung von Homosexualität in Russland, arbeitet das junge Team in mehreren verschiedenen Programmen – wie uns Alfred, Johnny, Polina und Kris erzählen. Wir – das sind zehn Aktivist*innen aus Hamburg und Berlin, die im Rahmen eines gemeinsamen Projekts vom LSVD Hamburg, Coming-out, dem Sidy-by-side-Filmfestival und der Initiative Action eine Woche in St. Petersburg sind, um verschiedene Projekte zu besuchen. Im August war eine russische Delegation in Hamburg. Unterstützt wird das Austauschprogramm vor dem Hintergrund der Städtepartnerschaft mit der zweitgrößten russischen Stadt von der Stadt Hamburg, der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch und 2016 erstmalig auch vom Auswärtigen Amt.
Polina erzählt von den unterschiedlichen Programmen für die unterschiedlichsten Zielgruppen. Das jährlich staatfindende Queerfestival, der Rainbowflash am 17. Mai als einzige öffentliche Straßenaktion, die kostenlose psychologische und rechtliche Beratung und Seminare zu Themen wie internalisierte Homophobie oder Sensibilisierung für Diskriminierung motivieren, stärken und mobilisieren die Community. Zudem gibt es den Elternclub, das Projekt für Regenbogenfamilien und die Trans*Gruppe Transmission für die Selbsthilfe und Vernetzung zu LSB. Des Weiteren ein Info- und Aufklärungsprogramm, ein Projekt zum Monitoring von Hate Crimes im Raum St. Petersburg sowie speziell ein Programm zur Stärkung der Ehrenamtlichen. Zudem können die Räume auch von anderen Initiativgruppen als Treffpunkt genutzt werden. Jährlich könne man 2.000 Menschen persönlich erreichen. Trotz der repressiven staatlichen Politik gibt es Erfolge: Russlandweit gäbe es inzwischen Initiativgruppen für und von LSBTI, die Community sei zunehmend für Mehrfachdiskriminierung sensibilisiert und die Zusammenarbeit mit der Bürgerrechtsbewegung immer besser. Nach einem sehr gut besuchten Rainbowflash zum IDAHOT 2015 wurde die Aktion 2016 polizeilich verboten und mit Festnahmen gedroht. 40 Leute kamen dennoch vor die Isaak-Kathedrale und nahmen ein Video zum IDAHOT2016 auf. Insgesamt wurde die Aktion zehnmal bei den Behörden beantragt, immer wieder wurden alternative Zeiten und Orte angeboten. Ein Gericht kam zu dem Schluss, dass das kein Verbot sei. Coming-out beschloss einen Präzedenzfall zu schaffen und lud für den 12. Juli 2017 zu einer Versammlung ein, auch wenn die Behörden wieder ein Ausweichdatum angegeben hatte. Nach zehn Minuten wurden die Aktivist*innen festgenommen. Man ist entschlossen nun bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen. Auch wenn es ab 2017 russischen Gerichten erlaubt ist, EU-Urteile für nicht bindend zu erklären, Klagen schaffen Öffentlichkeit.
Im Monitoringprogramm sammelt der Leiter Johnny sämtliche Gewalt- und Hassverbrechen gegen LSBTI, Hate Speech von Politiker*innen und/ oder Religionsvertreter*innen sowie Einschränkungen von Versammlungsfreiheit durch Festnahmen oder Absagen nach politischen bzw. polizeilichen Druck. Immer wieder kommt es auch zu Kündigungen im Bildungsbereich. Lehrkräfte und Erzieher*innen werden gezielt gestalkt, um Informationen über ihre geschlechtliche und/oder sexuelle Identität zu sammeln und diese dann bei den Schulleitungen zu übergeben und auf Entlassungen zu drängen. Es braucht diese verlässlichen Zahlen, um Behauptungen, es gäbe keine Diskriminierung, zu widerlegen. Inzwischen ist Coming-out die Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Stadt gelungen. Dieser nimmt die Zahlen in seine Berichte auf. Auch Quarteera, russischsprachige LGBT in Deutschland, greift auf diese Zahlen zurück, wenn sie hier Geflüchtete im Asylverfahren begleiten. Das zweite, von Johnny geleitete Projekt Transmission bietet juristische, medizinische und psychologische Beratung für Trans*, Peer-to-Peer-Councelling, begleitet sie zu den Behörden und macht Trans*identitäten und ‑realitäten sichtbar durch Veranstaltungen, Filmvorführungen oder eine geplante Publikation von Essays und Erfahrungsberichten.
Seit 2009 gibt es auch ein Regenbogenfamilienprojekt. Davon berichtet uns Kris. Da Regenbogenfamilien eine Zielscheibe des „Anti-Homosexualitätsgesetzes“ waren und sind, gilt für viele dieser Familien, bloß nicht aufzufallen. Kris ist seit 2014 im Projekt, veranstaltete anfänglich Gruppentreffen in neutralen Räumen. Sie sind sehr vorsichtig, haben sie doch Angst, dass ihnen ihre Kinder von den Behörden weggenommen werden. Heute sind viele neue Leute dabei, sie treffen sich in den Räumen von Coming-out und haben 2016 mit einer Aktion auch erstmalig am IFED, den International Family Equality Day, teilgenommen.
Großes Thema bei Coming-out ist eine zielgruppenspezifische Ansprache, um für Akzeptanz zu werben. Eine Rhetorik der Selbstbestimmung bzw. Wahlfreiheit kommt bzw. eine juristische Sprache kommt eher nicht an gegen emotional aufgeladene Ressentiments. Vielversprechender scheinen persönliche Erfahrungsberichte und Biographien. Einige präferieren auch eine „Born-This-Way“-Argumentation und betonen, dass Liebe keine Wahl sei. Studierende können vor allem mit dem Ziel der Chancengleichheit im beruflichen Umfeld und des diskriminierungsfreien Zugangs zu staatlichen Leistungen überzeugt werden. Eine andere Strategie ist die behauptete Opposition von „traditionell-russischen“ Werten und LSBTI in Frage zu stellen und Liebe und gegenseitige Verantwortung zu betonen, die doch auch zu den russischen Werten gehören sollten.
Finanziert wird die Arbeit durch ausländische Gelder. Coming-out gilt wie so viele Bürgerrechtsinitiativen inzwischen auch als ausländischer Agent, d.h. als Spion, der gegen russische Interessen arbeitet. So ist man offiziell auch eine Initiativgruppe und keine NGO mehr. Sie gehen davon aus, dass sie auch abgehört und beobachtet werden. Kamera und Sicherheitstechnik wurden ebenfalls für das Büro angeschafft. Doch die vier bleiben optimistisch. Trotz aller Repressionen und Schikanen werden sie Wege zum Weiterarbeiten finden.
Markus Ulrich
LSVD-Pressesprecher