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Grundrechte nicht mit Wählerstimmen abwägen

Der LSVD kommentiert die Äußerung von Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und Mitglied des Parteirats von Bündnis 90/Die Grünen zum Adoptionsrecht. Zum vollständigen Text des Briefes:

 

 

 

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

mit Erstaunen haben wir der Presse Ihre Äußerungen zu einen gemeinsamen Adoptionsrecht für Eingetragene Lebenspartnerschaften entnommen. Sie werden mit dem Satz zitiert: „Das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ist vorerst keine Forderung, mit der sich 25% der Deutschen gewinnen lassen.“ Das hat bei vielen Menschen große Empörung hervorgerufen.

Denn selbst wenn dem so wäre, müsste das für einen verantwortlichen Politiker Ansporn sein, für eine Bewusstseinsänderung offensiv zu werben. Schließlich geht es beim Abbau von Diskriminierungen um Grundrechtsfragen. Der Auftrag des Grundgesetzes lautet: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Gerade den Grünen ist es durch gute Argumente oft gelungen, aus einer Minderheitsposition heraus Mehrheiten zu überzeugen. Wenn sie diesen Weg verlassen, ist die Glaubwürdigkeit schnell verloren.

Sie schätzen aber ohnehin die Haltung in der Bevölkerung falsch ein. Zuletzt hat z.B. eine im Mai 2011 im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführte repräsentative Emnid-Erhebung ergeben: 64 % der Befragten befürworten, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kindern rechtlich der Ehe gleichgestellt werden sollen. Längst sind weite Teile der Bevölkerung zu der Überzeugung gekommen, dass Lesben und Schwule genauso gute Eltern sind wie andere Menschen auch und beim Adoptionsrecht nicht diskriminiert werden dürfen.

In der Sache bestürzt hat uns Ihre Formulierung vom „uneingeschränkten Adoptionsrecht für homosexuelle Paare“. Wir kennen niemanden, der eine solche Forderung erhebt. Schließlich haben auch Ehepaare kein „uneingeschränktes Adoptionsrecht“. Ob eine Adoption im konkreten Einzelfall dem Wohl des Kindes dient, ist jeweils der sachkundigen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts überlassen .Niemand hat einen Anspruch auf Adoption eines Kindes, aber alle haben das Recht, dass ihre Eignung vorurteilsfrei geprüft wird. Nicht mehr aber auch nicht weniger wollen wir für gleichgeschlechtliche Paare. Das in diesem Zusammenhang gänzlich unsachgemäße Wort „uneingeschränkt“ bedient nur die Phobien der Strukturkonservativen, die immer Schrankenlosigkeit und Dammbrüche wittern.

In der Hoffnung, dass Sie offen sind für Sensibilisierung und gute Argumente, will ich noch einige Informationen zur Situation gleichgeschlechtlicher Familien mit Kindern anfügen. Politik und Gesetzgeber muss es beim Thema Adoptionsrecht in erster Linie um das Wohl der Kinder in Regenbogenfamilien gehen. Dafür sind die Liebe und die Unterstützung der Eltern und nicht das Geschlecht entscheidend.

Elternschaft und homosexuelle Lebensweisen waren lange Zeit für weite Teile der Gesellschaft kaum vorstellbar. Dennoch sind sogenannte Regenbogenfamilien, d.h. lesbische Mütter oder schwule Väter und ihre Kinder kein Einzelfall. Alleine in Deutschland wachsen derzeit Tausende Kinder in Regenbogenfamilien auf. Die Mehrheit dieser Kinder stammt aus vorangegangenen heterosexuellen Beziehungen. Zunehmend entscheiden sich heute Lesben und Schwule auch nach ihrem Coming-out für eigene Kinder.

Die herkömmliche Familienbild in Gesellschaft und Wissenschaft trägt der umfänglichen Existenz von lesbisch-schwulen Familien noch immer nicht Rechnung, und die Mitglieder von Regenbogenfamilien erfahren nicht die rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen zusteht.

Für Lesben und Schwule ist so das Alltagsleben als Regenbogenfamilien heute ebenso wie die Realisation des Kinderwunsches mit weit mehr Schwierigkeiten verbunden als für heterosexuelle Frauen oder Männer in Deutschland oder für homosexuelle Paare in fortschrittlicheren europäischen Ländern wie z.B. Skandinavien oder den Niederlanden.
Zu den Schwierigkeiten gehört eben auch das fehlende gemeinsame Adoptionsrecht für Eingetragene Lebenspartnerschaften. Dies stellt eine Benachteiligung der Kinder in Regenbogenfamilien dar, was der Chancengleichheit dieser Kinder massiv widerspricht.

Gerade eine im Jahr 2009 veröffentlichte, vom BMJ beauftragte Studie zu Kindern in Regenbogenfamilien hat gezeigt, dass diese sich genauso prächtig entwickeln, wie Kinder in klassischen Familienkonstellationen.

Die homosexuelle Orientierung von Eltern ist zwar kein Garant, doch nachgewiesenermaßen auch in Deutschland kein Hinderungsgrund für gelingende Elternschaft und eine Familie, die dem Wohl des Kindes dienlich ist.

Die Studie hat auch ergeben, dass Kinder und Jugendliche, die in eingetragenen Lebenspartnerschaften aufwachsen, ihre Familiensituation positiv bewerten und sich in ihrer Entwicklung in keiner Weise beeinträchtigt fühlen.

Weitere Informationen dazu finden Sie auf den Familienseiten unserer Homepage
Zudem lege ich Ihnen unsere Zusammenfassung der Ergebnisse der BMJ-Studie bei.“

Klaus Jetz, LSVD-Geschäftsführer



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