Der Elternclub in St. Petersburg
Vier Frauen sitzen vor uns auf dem Sofa und erzählen von ihren lesbischen Töchtern und schwulen Söhnen. Wir, eine deutsche Delegation aus Hamburg und Berlin, sind zu Gast beim Elternclub der Initiative Vychod („Coming-out“) in St. Petersburg, hören gebannt zu und sind gerührt und beeindruckt von dem Engagement der Mütter.
Rückblick: Das LGBTI-Filmfestival Side By Side zeigt 2010 den US-Film „Prayers for Bobby“. Der Film handelt von der wahren Geschichte des jungen schwulen Mann Bobby Griffith. Er nimmt sich das Leben, aufgrund der religiösen Intoleranz seiner Mutter und seines Umfeldes. Zu spät für ihn überwindet seine Mutter ihre homophob-religiösen Dogmen und wird erst nach dem Selbstmord ihres Sohnes eine Aktivistin für gleiche Rechte, Vielfalt und Respekt. Im Publikum sitzen auch sechs Mütter, die nach der Diskussion beschließen, sich monatlich zu treffen.
Den mit dem Coming-out des Kindes stehen auch die Eltern auf einmal vor einem Coming-out und einem Lernprozess. Mit wem reden sie über ihre Kinder? Was der Oma erzählen, der Nachbarin, dem Arbeitskollegen, wenn gefragt wird, ob der Sohn denn schon eine Freundin hätte oder die Tochter nicht mal heiraten will? Viele Eltern sind nach dem Coming-out in einem „Schockzustand“, wie es uns die Mütter erzählen. „Auf einmal gehörst du zu dem Lager, das von staatlichen Institutionen bekämpft wird. Wenn du dich an die Seite deiner Kinder stellst, wirst du zu den Feinden einer homophoben Gesellschaft.“ Viele Eltern hätten Angst um ihre Kinder, aber auch sich selbst. Sie kennen oftmals nur die aggressive Propaganda gegen LSBTI und gingen immer davon aus, dass es sie nie direkt betreffen würde. In der russischen Gesellschaft fehlt es an einer öffentlichen Diskussion über LSBTI. Sie haben niemand, um sich auszutauschen, psychotherapeutische Beratung ist sehr teuer und wer weiß, an wen sie geraten. Andere trauen sich nicht zu Initiativen wie dem Elternclub. Viele Eltern finden keine Ratschläge.
Der Elternclub bietet Filmabende mit Eltern-Kind-Konflikten und regelmäßige Gesprächsrunden. Die eigenen Fragen und Ängste in einem akzeptierenden Umfeld von Gleichgesinnten thematisieren zu können, schildern die Mütter als eine enorme Entlastung, Bereicherung und Kraftquelle. Viele hätten keine Sprache für Sexualität, keine Wörter für ihre Kinder. Sie schweigen, auch wenn sie ihre Kinder akzeptieren (wollen). Aber um Emotionen zu teilen, braucht es eine gemeinsame Sprache, die sie im Elternclub entwickeln können.
Oftmals fragen auch die Söhne und Töchter an, sei es persönlich oder über social media, ob, wie und wann sie es ihren Eltern erzählen könnten. Die Mütter erzählen dann von ihren Erfahrungen, Ratschläge geben sie nicht. „Ich hab keine Angst mehr, über mein Kind zu sprechen.“, erzählen sie. Stattdessen verteidigen sie diese, fragen Freund*innen oder Bekannte, ob sie was an ihren Kindern auszusetzen hätten. Auf unsere Frage, ob sich auch Väter beteiligen, antworten sie, dass auch in Russland oftmals die Mütter für die Familien- und Sorgearbeit zuständig seien und sich in der Verantwortung sehen, ihre Kinder zu schützen. Es gäbe aber auch Väter, die offen hinter ihren Kindern stehen, wenn auch weniger aktiv bzw. eher zu den Filmabenden und Feiern kommen oder aber mithelfen z.B. Unterschriften zu sammeln.
Denn der Elternclub ist auch politisch aktiv. Während einige Eltern nur einige Male kommen, beteiligt sich der harte Kern am Regenbogenflash 2015 zum IDAHOT, geben Interviews für die Presse, sammelten Unterschriften gegen das Antipropaganda-Gesetz und nahmen an den sogenannten Eine-Person-Demonstrationen teil, die man im Vorfeld nicht anmelden muss. Festnahmen oder Geldbußen drohen trotzdem.
Doch die Eltern sind sich auch sicher, dass es aufgrund der staatlichen Propaganda ein falsches Bild von den Einstellungen in der Bevölkerung gäbe. Viele würden LSBTI akzeptieren, machen es aber nicht öffentlich. Doch für Elternclub steht fest: „Wir gehören zur Community und haben damit die gleiche Angst.“ Sie führen aber auch die gleichen Kämpfe.
Markus Ulrich
LSVD-Pressesprecher
Zehn Aktivist*innen aus Hamburg und Berlin konnten im Rahmen eines gemeinsamen Projekts vom LSVD Hamburg, Coming-out, dem Sidy-by-side-Filmfestival und der Initiative Action eine Woche in St. Petersburg verbringen, um verschiedene Projekte zu besuchen. Im August war eine russische Delegation in Hamburg. Unterstützt wurde das Austauschprogramm vor dem Hintergrund der Städtepartnerschaft mit der zweitgrößten russischen Stadt von der Stadt Hamburg, der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch und 2016 erstmalig auch vom Auswärtigen Amt.