Kategorien
Hirschfeld-Eddy-Stiftung Projekte Veranstaltungen Verband

ILGA-Weltkonferenz 2024 in Kapstadt

ILGA Konferenz Kapstadt, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Unter dem Motto „Kwa Umoja – We Rise“ fand vom 11. bis 15. November 2024 die 31. ILGA-Weltkonferenz in Kapstadt statt. Mit über 1450 Teilnehmenden aus über 100 Ländern (s. Website und später im Text)  war es die bisher größte ILGA-Zusammenkunft. Das Konferenzprogramm umfasste 65 thematische Workshops bzw. Diskussionsrunden sowie 28 regionale Foren und Vor-Konferenzen, in denen sich beispielsweise gewerkschaftlich organisierte oder queere Menschen mit Behinderung austauschten. Die thematischen Sessions reichten von menschenrechtlichen Fragestellungen – etwa zur Partizipation an der Berichterstattung auf UN-Ebene –, über Inter*- und Trans*- oder Lesben*-Foren bis zur Kritik queerer Menschen an humanitärer Hilfe oder den Problemverschärfungen durch den Klimawandel.

Viele Diskussionsrunden berücksichtigten das schwere Erbe des Kolonialismus und geo-politische Entwicklungen, insbesondere den Aufstieg rechter und fundamentalistischer Anti-Menschenrechts-Bewegungen, die gut finanziert und international vernetzt sind. Mit ihrer homo- und transphoben Hetze zielen sie letztlich auf die Aushöhlung der Demokratie und den Aufbau autoritärer Regime ab.

Etliche Redner*innen wiesen darauf hin, dass solche Probleme nicht neu sind. Denn die Kriminalisierung sexueller Identitäten und Orientierungen geht in vielen Staaten des Globalen Südens auf die jeweilige Kolonialmacht und koloniale Gesetzgebungen zurück.

ILGA Konferenz 2024, Julia Ehrt, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Julia Ehrt, geschäftsführende ILGA-World-Direktorin, unterstrich in ihrer Eröffnungsrede: „Indem wir die Konferenz auf den afrikanischen Kontinent zurückbringen, betonten wir, dass queere Menschen hier gelebt haben, lange bevor die Kolonialherren kamen. Es waren die Kolonisatoren, die das Christentum und das sehr rigide Verständnis eines binären Gender-Systems brachten. Um so wichtiger ist es, dass die Erklärung universeller Menschenrechte unsere Rechte garantiert.“ Sie wies auch darauf hin, wie wichtig die Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Bewegungen ist, um den Anti-Gender-Agitationen und deren Angriffen auf die Menschenrechte entgegenzutreten.

ILGA Konferenz 2024, Tuisina Ymania Brown, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Tuisina Ymania Brown (Samoa), ILGA-World-Co-Generalsekretärin, bestärkte die Teilnehmenden, weiterhin als Menschenrechtsaktivist*innen eine gemeinsame Bewegung zu bilden: „Das ist die einzige Möglichkeit für zukünftige Veränderungen, dafür, den Traum einer besseren Zukunft zu verwirklichen, für die sich unsere Ahn*innen einsetzten. (…) Ich stehe auf den Schultern von Riesen, die mir vorausgingen. Und auf meinen Schultern werden andere stehen, die unsere Bewegung weiterführen, so verändern wir die Welt.“

Zusammenhalt, Widerstand, vorkoloniale Bezüge

Logo ilga-world

Die Verwendung der Swahili-Redewendung „Kwa Umoja“ als Konferenztitel (im Deutschen sinngemäß „Wir stehen zusammen, wir erheben uns gemeinsam.“) war programmatisch. Swahili ist eine Lingua Franca, eine grenzübergreifende Handelssprache in Ostafrika, die viele Lokalsprachen integriert und vorkolonial Austausch und wirtschaftliche Entwicklung ermöglichte. In Folge von Migration und Flucht leben inzwischen auch etliche Swahili-sprechende Menschen in Südafrika. Auf Zulu, einer der 12 offiziellen südafrikanischen Nationalsprachen, lautete das Konferenzmotto „Siphakamile“: Wir sind aufgestanden.

Das Motto wurde auch im Konferenzlogo mit einem  verästelten Baum aufgegriffen (s. dazu ebenfalls Webseitenerklärung zum Logo); das Logo bezog sich zudem indirekt auf die südafrikanische Rainbow-Flag, die sich an der offiziellen südafrikanischen Fahne orientiert und Vielfalt zelebriert. Das Emblem zeigte einen Baobab-Baum, der Widerstandskraft in Dürrekrisen symbolisiert. Diese Bäume mit stabilem Wurzelwerk und großer Höhe werden etliche hundert Jahre alt und wurden von vorkolonialen Gesellschaften u.a. wegen ihrer überlebenswichtigen Früchte auch kulturell geschätzt. Koloniale christliche Missionierung, Landenteignungen und Vertreibungen konnten die Bedeutung von Baobab-Bäumen als Symbol für überdauernde Stärke nicht brechen.

Unter dem Bild des Baobab  mit schützendem Schirm zelebrierten traditionelle Heiler*innen zur Konferenzeröffnung ein Begrüßungs- und Erinnerungsritual. Sie dankten Ahn*innen, die über Jahrtausende in diesem Land mit einzigartiger biologischer Vielfalt am Kap der guten Hoffnung lebten. So erhielt die diesjährige ILGA-Welt-Konferenz eine starke lokale Verortung, an die teilnehmende queere Indigene aus anderen Kontinenten anknüpfen konnten.

Zivilgesellschaftliche Verortung in Südafrika

Vom zivilgesellschaftlichen Umgang mit den zerstörerischen Folgen der jahrhundertelangen Kolonial- und Apartheidgeschichte in Südafrika erhielten die Konferenzteilnehmenden einen kleinen Eindruck durch den Protestgesang feministischer, queerer Schwarzer Basisaktivist*innen, u. a. Sexworker*innen, die für ihre Kritik an fortdauernder wirtschaftlicher Marginalisierung kollektive Gesänge gegen das repressiv-rassistische Apartheidregime von 1948 bis 1994 wiederbelebten und zeitgemäß variierten. Sie veranschaulichten und kritisierten performativ, wie race, class und gender weiterhin zu Mehrfachdiskriminierungen führen. So wurde Intersektionalität greifbar – ein Thema, dem sich etliche Redner*innen aus unterschiedlichen Perspektiven widmeten.

ILGA Konferenz 2024, Mpho Tutu van Furth, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Dazu zählte Mpho Tutu van Furth, südafrikanische Priesterin, Autorin und Aktivistin. Weil sie mit einer Frau verheiratet ist, erlaubt die anglikanische Kirche ihr nicht mehr zu predigen. Sie ist die Tochter des Kapstädter anglikanischen Erzbischofs Desmond Tutu, der sich sein Leben lang für Menschenrechte von sexuellen Minderheiten einsetzte. Basisorganisationen südafrikanischer Lesben und Schwulen hatten im Zuge der demokratischen Wende der 1990er-Jahre weltweit als vorbildlich geltende Verfassungs- und Gesetzesänderungen erkämpft. Daran war auch Dr. Beverley Palesa Ditsie beteiligt, deren couragierter nationaler und internationaler Einsatz für die Rechte von Lesben, insbesondere während der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking, nun erneut in Kapstadt wertgeschätzt wurde.

Ditsies bekanntester damaliger Mitstreiter, mit dem sie im Oktober 1990 die erste Pride-Parade in Johannesburg organisierte, war Simon Nkoli (1957–1998), der seinen Kampf für die Menschenrechte von Schwulen und HIV-positiven Menschen immer untrennbar mit dem Anti-Apartheidkampf verband. Das verursachte Kontroversen im African National Congress (ANC) und in der von konservativen, regimetreuen weißen Schwulen dominierten Organisation Gay Asociation of South Africa (GASA). Die kategorische Weigerung von GASA, Nkoli als langjährigen politischen Gefangenen zu unterstützen, führte damals zu Eklats innerhalb der ILGA, u.a. während der ILGA-Weltkonferenz 1987 in Köln. GASA wurde von ILGA ausgeschlossen, denn diese Organisation war nie bereit, sich vom Apartheidstaat zu distanzieren. Nkoli war im ILGA-Afrika-Vorstand aktiv und setzte sich zu Lebzeiten für eine internationale ILGA-Konferenz in Südafrika ein, die schließlich knapp ein Jahr nach seinem Tod zum ersten Mal in Johannesburg stattfand.

Südafrikanische Konferenzorganisation

Für die Durchführung der diesjährigen internationalen ILGA-Konferenz mit über 1450 Delegierten aus mehr als 100 Ländern waren die südafrikanischen Nichtregierungsorganisationen Gender Dynamix und Iranti verantwortlich. Diese weltweit größte Zusammenkunft von LGBTIQ*-Menschenrechtsverteidiger*innen und Unterstützer*innen fand zum zweiten Mal in Südafrika statt. Bereits 1999 hatten Aktivist*innen und Organisationen aus Südafrika, Simbabwe, Namibia, Sambia und Botsuana eine ILGA-Weltkonferenz in Johannesburg ausgerichtet, an der 200 Teilnehmende aus 40 Ländern partizipierten. Viele diesjährige Konferenzteilnehmende waren sich einig, dass wegen der Kriminalisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe und sexuellen Minderheiten in etlichen afrikanischen Staaten Südafrika das einzige Land auf dem Kontinent ist, wo ILGA-Weltkonferenzen relativ gefahrenfrei für Aktivist*innen und Veranstalter*innen durchgeführt werden können.

Die geschäftsführenden Direktor*innen von Iranti, Dr. Lentsu Nchabeleng, und von Gender Dynamix, Liberty Matthyse, betonten in ihren Beiträgen, dass sie den Kampf für reproduktive Rechte, Frauenrechte und Gerechtigkeit trotz aller Gegenkräfte weiterführen werden.

Dr. Lentsu Nchabeleng erinnerte an die lange Gewaltgeschichte in Südafrika als Erbe der Apartheid, dazu zählte sie geschlechtsspezifische Gewalt, binäre Geschlechterkonzepte, toxische Männlichkeitsvorstellungen, Machtmissbrauch, strukturelle Ungleichheiten, Armut und Vergewaltigungen von Lesben. Durch die beharrliche Arbeit von Aktivist*innen seien einige Probleme verringert worden. Gleichzeitig unterstrich sie: „Es muss noch viel getan werden. Jede*r von uns muss handeln und immer wieder neu lernen. Dazu ist es ideal, alles mit einem intersektionalen Ansatz zu betrachten (…) und damit queere Themen zu adressieren.“

Denn in Südafrika und im südlichen Afrika insgesamt gibt es starke Bewegungen für Menschenrechte, einschließlich der LGBTIQ*-Menschenrechte. Auch wichtige Politiker setzten sich dafür ein. Liberty Matthyse ermutigte: „Wir schöpfen Hoffnung und Stärke aus den Erfolgen unserer langjährigen Arbeit.“ Zudem dankte sie den südafrikanischen Basisaktivist*innen: „Wir werden ermutigt durch deren lokale Arbeit, die uns (als etablierte Nichtregierungsorganisationen) an unsere Rechenschaftspflicht gegenüber der Basis erinnern und unermüdlich auf die langlebigen Folgen des Kolonialismus in Bezug auf die Machtdynamiken im Globalen Süden und Norden hinweisen. Die politische Bewusstseinsarbeit  der starken lokalen Kollektive hat zu einer progressiven und transformativen Konferenzagenda geführt – wir verstehen uns als Freund*innen und Geschwister.“

ILGA Konferenz 2024, Mmapaseka Steve Letsike, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Mmapaseka Steve Letsike, stellvertretende südafrikanische Ministerin für Frauen, Jugend und Behinderte, die ausgehend vom zivilgesellschaftlichen AIDS-Aktivismus und dem feministischen Kampf gegen Hassgewalt gegen Schwarze Lesben in die Parteipolitik gegangen war, bekundete ebenfalls ihre Solidarität mit den Basisaktivist*innen. Zudem erinnerte sie an Simon Nkoli und übermittelte Grußworte vom Präsidenten Südafrikas, Cyril Ramaphosa. Sie unterstrich die Notwendigkeit umfassender Gerechtigkeit: „Dazu ist Intersektionalität der Grundstein. Die Verwirklichung von LGBTIQ*-Menschenrechten sollte immer mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit verbunden sein, mit Rechten für Frauen, Geflohene und Migrant*innen. Weltweit haben wir uns noch nicht genug mit race und class befasst. Der Globale Norden und Süden sind gespalten, da muss unsere Community besser werden. (…) Lasst uns stolz darauf sein, dass viele vorkoloniale Gesellschaften vielfältige Gender-Identitäten und Sexualitäten zelebrierten. Das Ausradieren solcher Geschichten durch Kolonialismus und fremde Gesetzgebungen ist eine der größten Ungerechtigkeiten des kolonialen Imperialismus. Im Kampf für LGBTIQ*-Rechte wollen wir die Wiederherstellung indigener her-stories, auch wenn es um universelle Inklusion, Empathie und Fürsorge geht.

Überwindung kolonialer Kriminalisierung in Indien

Nicht nur in Afrika, auch auf anderen Kontinenten hat der britische Kolonialismus schwere Zerstörungen angerichtet, die nur mit viel Mühe überwunden werden. Ein Beispiel dafür ist Indien. Die Juristinnen Dr. Menaka Guruswamy und Arundhati Katju, die die gerichtliche Anfechtung der Entkriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen in Indien angeführt haben, erläuterten den steinigen Weg mit vielen Fehlschlägen, um rechtliche Diskriminierung abzuschaffen. Sie erinnerten an den indischen Anwalt und Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi, der 1893 bis 1914 in Südafrika arbeitete und dort zivilen Ungehorsam als politische Protestform verbreitete. Arundhati Katju unterstrich, dass die neuen Verfassungen in Indien und Südafrika einen klaren Bruch mit der kolonialen Vergangenheit vollzogen: „Der lange Kampf der nationalistischen Bewegungen gegen den Kolonialismus wird in der Verfassung reflektiert.“ Gleichzeitig benannte sie die tiefen gesellschaftlichen Spaltungen, Machtkämpfe und Gewalteskalationen in Indien, insbesondere auf der Basis von Religion und Kastendenken, die überwunden werden mussten.

Katju skizzierte: Basierend auf der indischen Verfassung waren rechtliche Forderungen zur Überwindung der Diskriminierung von sexuellen Minderheiten zunächst ausgerichtet auf Verfassungsversprechen an religiöse Minderheiten und Angehörige niedriger Kasten, die unter historischer Diskriminierung litten. Nach Misserfolgen entschieden die Jurist*innen: „Wir gingen erneut vor Gericht, zusammen mit LGBTIQ*-Menschen, die aktiv an den Petitionen mitwirkten und ihre Geschichten mit ihren eigenen Worten erzählten.“ Guruswamy ergänzte: „Wir müssen unsere Strategien und Techniken immer situationsspezifisch anpassen. (…) Und wir müssen unsere Differenzen überwinden, Konsens und Allianzen bilden – über religiöse, class und caste Unterschiede hinweg.“

Am 6. September 2018 hob das oberste Gericht in Indien ein über 150 Jahre altes Gesetz aus der britischen Kolonialzeit auf, das homosexuelle Handlungen kriminalisierte (Section 377 aus dem Strafgesetzbuch von 1860, Strafmaß: zehn Jahre bis lebenslange Haft).

Die Zivilgesellschaft hatte über viele Jahre mit Lobbyarbeit darauf hingearbeitet. Geetanjali Misra, geschäftsführende Direktorin von Creating Resources for Empowerment and Action (CREA) und aktiv im Vorstand von Astraea Lesbian Foundation for Justice, erläuterte dazu: „Die größte Diskussion war, ob wir für die Entkriminalisierung sexuelle Orientierung und Gender-Identität als zentralen Punkt nutzten sollten. Wir entschieden uns aber für das sexuelle Zustimmungs-Prinzip von Erwachsenen, um auch Sex-Arbeiter*innen einzubeziehen. Zudem wollten wir die Frauenbewegung erreichen, die gegen erzwungenen Sex und häusliche Gewalt kämpfte. Darüber hinaus wollten wir Kinder vor sexuellen Übergriffen schützen, deshalb betonten wir die Zustimmung durch Erwachsene. Unter all diesen Aspekten war ‚Gay Sex’ ein Punkt. Wir mussten Kompromisse finden, um die Intersektionalität der Forderungen zu bewahren.“ So wurde Solidaritätsarbeit zwischen ganz verschiedenen Bewegungen möglich.

Genau von dieser post-kolonialen Solidarität, der gemeinsamen Orientierung am Verbindenden in der Menschenrechtsarbeit für alle – über keineswegs zu ignorierende Divergenzen hinweg – lebte die diesjährige ILGA-Weltkonferenz in Kapstadt.

Dr. Rita Schäfer, freiberufliche Afrikawissenschaftlerin

Ein Artikel im Rahmen des Projekts Kulturen und Kolonialismus — Der Kampf um die Menschenrechte von LSBTIQ* im Licht der Debatte um Dekolonisierungder Hirschfeld-Eddy-Stlftung.

BMJ
HES


Teile diesen Beitrag: