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Postkoloniale humanitäre Krisen und LSBTIQ*

Diskussionen während der ILGA-Weltkonferenz 2024

Humanitäre Krisen sind vielerorts im Globalen Süden keineswegs nur eine Folge von Naturkatastrophen, sondern resultieren aus gewaltsamen Machtkonflikten in Ländern, deren Staatsgrenzen von europäischen Kolonialmächten auf dem Reißbrett gezogen wurden. Aus skrupellosem Machtkalkül und eurozentrisch-rassistischem Überlegenheitsdünkel ignorierten sie die seit Jahrhunderten bestehenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen, Dynamiken, Handels‑, Transport- und Austauschprozesse in einer Region. Die Folgen sind bis heute latente Spannungen in und zwischen nachkolonialen Staaten; und bis heute zwingen bewaffnete Konflikte Menschen zur Flucht.

Besonders dramatisch ist die Situation für sexuelle Minderheiten in Flüchtlingslagern, wo Homo-/Transphobie, Xenophobie und Rassismus zu weiteren Gefährdungen und Benachteiligungen führen. Institutioneller Rassismus im humanitären Kontext ist ein Erbe des Kolonialismus. Um so notwendiger sind postkoloniale Perspektiven für umfassende konzeptionelle Änderungen und Verbesserungen in der Flüchtlingshilfe. Darum bot die ILGA-Weltkonferenz Mitte November 2024 in Kapstadt Diskussionsforen zum Austausch über diese Probleme und gemeinsame Lösungsansätze an. Zum Schutz der Beteiligten verwendet dieser Blog-Beitrag bei den (Basis)Aktivist*innen nur Namenskürzel.

Von der Hilfe für geflohene Sklav*innen zum Schutz von LSBTIQ*

ILGA Konferenz 2024, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Die nordamerikanische Organisation Rainbow Railroad unterstützt LSBTIQ*-Menschen, die vor Verfolgung Schutz suchen. Der Name geht auf das Hilfsnetzwerk Underground Railroad zurück, das Sklav*innen unterstützte, die im 19. Jahrhundert vor dem mörderischen Rassismus in den Südstaaten der USA Richtung Kanada flohen. Die 2006 von Freiwilligen gegründete Organisation mit Sitz in Toronto und New York erreichten im Verlauf der Jahre seit ihrer Gründung mehrere zehntausend Hilferufe und Anfragen. Während der diesjährigen ILGA-Weltkonferenz initiierte ihr Vertreter, Dr. Nishin Nathwani, den Austausch zwischen LSBTIQ*-Aktivist*innen und ‑Organisationen, die Geflüchtete in Nord- und Südamerika, Asien und Afrika helfen. Mehrheitlich kritisierten die Panelist*innen, dass die mit viel Geld ausgestatteten Anti-Rights-Bewegungen und die staatlich geförderte Homophobie in ihren Ländern keineswegs nur LSBTIQ*-Menschen bedrohen, sondern auch Frauen, Frauenrechte sowie die reproduktive Gesundheit und Bildung. Mit Moral werde gegen grundlegende Menschenrechte vorgegangen. Auch innerhalb des UN-Systems lassen sich bereits diesbezügliche Agitationen beobachten, denen entgegengetreten werden muss.

LSBTIQ*-Inklusion im UN-Zukunftspakt

Um klarzustellen, dass die Schutzinteressen von LSBTIQ*-Menschen keineswegs ein zivilgesellschaftliches Nischenthema oder international eine Marginalie sind, verwies Dr. Nathwani auf den UN-Zukunftsgipfel. Dieser fand Ende September 2024 in New York statt und brachte Zivilgesellschaft, Regierungs- und UN-Vertreter*innen zusammen. Dort wurde über multilaterale Partnerschaften für Frieden und Sicherheit, einen Zukunftspakt mit LSBTIQ*-Inklusion sowie wirksame Strategien gegen die vielerorts stattfindende Bedrohung von LSBTIQ* gesprochen. Der Gipfel nahm explizit Bezug auf den steigenden Autoritarismus und die Destabilisierung des internationalen Friedens und thematisierte die damit verbundene verstärkte Verfolgung von LSBTIQ*-Menschen sowie notwendige Gegenstrategien der UN. Daran partizipierte der UN-Sonderberichterstatter zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität, Graeme Reid aus Südafrika, der während der ILGA-Weltkonferenz in Kapstadt ebenfalls auf mehreren Panels mitdiskutierte. Bereits sein Vorgänger, Victor Madrigal-Borloz, hatte 2021 zusammen mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR eine umfassende Dokumentation über den notwendigen Schutz von gewaltsam vertriebenen LSBTIQ*-Menschen herausgebracht; sie entstand auf Grundlage eines Round-Table-Gesprächs mit über 600 Aktivist*innen.

Mehr Inklusion von LSBTIQ*-Geflüchteten in der UN

ILGA Konferenz 2024, ©Hirschfeld-Eddy-Stiftung

E.* aus El Salvador erläuterte, dass aus dem detailliert dokumentierten Round-Table-Gespräch 2021 keine praktischen Schritte zur Situationsverbesserung erfolgt seien. Alles bleibe auf der Ebene von politischen Leitlinien, etwa beim UNHCR zu Gender, Alter und Behinderung. E* unterstrich: Dabei gehen LSBTIQ*-Anliegen unter. Zwar würden es im UNHCR und in der Internationalen Organisation for Migration (IOM) einzelne Ansatzpunkte zur LSBTIQ*-Inklusion geben, diese würden aber unter den großen Bereich „Gender“ subsummiert und hätten deshalb oft Zugangsbarrieren. Zudem sind UN-Gremien in Genf und New York für geflüchtete LSBTIQ*-Menschen aus Kostengründen räumlich kaum erreichbar. Deshalb seien andere UN-Strategien notwendiger denn je.

Queere Communities und Aktivist*innen in Organisationen sollten sich stärker mit den UPR-Mechanismen des UN-Menschenrechtsrats und mit der CEDAW-Frauenrechtskonvention beschäftigen, um beispielsweise die Interessen und Stimmen von Lesben – insbesondere auch aus Post-Konfliktländern – dort zu Gehör zu bringen. Die Gefährdungen von LSBTIQ* im Kontext von Flucht und Migration sollten aber nicht nur von einzelnen UN-Gremien behandelt werden, sondern innerhalb der UN-Strukturen insgesamt größere Beachtung finden. Schließlich gäbe es genug Detailstudien über länderspezifische Verfolgungen.

LSBTIQ*-Flüchtlingsarbeit in den USA

U.* von Rainbow Railroad erinnerte daran, dass aktuelle politische Trends in den USA sich bereits früher abzeichneten. Das Rainbow Railroad-Team müsse seit Jahren immer wieder situationsspezifisch agieren, denn es handele sich gegenwärtig nicht um die erste Welle an Anfeindungen von LSBTIQ*. Die Organisation reagiert auf individuelle Hilferufe und konkrete Anfragen und handelt entsprechend. U.* gab zu bedenken, dass es nirgendwo umfassende Sicherheit gibt, aber Rainbow Railroad setze alles daran, relative Sicherheit für queere Hilfesuchende zu gewährleisten. Hinsichtlich der dafür notwendigen Finanzen und Fördergelder monierte U.* den latenten Rassismus in vielen Förderanträgen sowie während der Bewilligungs- und Belegprozesse. Es gehe also keineswegs nur darum, dass die überbordende Bürokratie von kleinen Organisationen logistisch und personell gar nicht zu bewältigen sei – weder in Afrika noch anderswo.

Wirtschaftlicher Druck auf LSBTIQ* in Argentinien

A* aus Argentinien betonte, dass auch queere Organisationen in Argentinien nicht erst aktuell auf unterschiedliche Ausrichtungen der jeweiligen Regierung reagieren müssen; insofern seien die derzeitigen Beschränkungen in größeren Kontexten zu betrachten. A* erläuterte vor allem die Wirtschaftskrise und die exorbitante Inflation, die den Alltag aller Menschen, insbesondere geflüchteter LSBTIQ*, erschweren. Argentinien sei aufgrund seiner geografischen Lage, der sehr hohen Lebenshaltungskosten und der spanischen Sprache kein attraktives Zielland für Schutzsuchende. Auch die dortige Kultur erschwere die Integration. Um so wichtiger seien Sprachkurse, Beratungen zur mentalen Gesundheit und überhaupt Hilfe beim Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem – darauf sei seine Basisorganisation ausgerichtet.

Tragfähige Vernetzungen in Thailand

T* aus Thailand thematisierte ebenfalls generelle Wirtschaftsprobleme des Landes und damit verbundene Ungleichheiten; das Reagieren auf ein sich ständig veränderndes Umfeld sei belastend. All das erschwere die Arbeit für die Communities. T* ermutigte zu mehr Einsatz für soziale Gerechtigkeit (social justice) in Kooperation mit anderen sozialen Bewegungen, etwa mit Sex-Arbeiter*innen und Gewerkschaften. Der Aufbau nachhaltiger Allianzen, Kooperationen und tragfähiger Vernetzungen sei zwar harte Arbeit, dennoch seien solche Verbindungen für umfassende Veränderungen notwendig.

Fundamentalistischer Terror in Afghanistan

F* aus Afghanistan erläuterte die katastrophalen Folgen der abermaligen Machtergreifung der Taliban 2021. Für LSBTIQ*-Menschen steigen die Bedrohungen und Gewaltübergriffe, auch sexualisierte Gewalt eskaliert. Diese wird nicht strafrechtlich verfolgt, was die Täter aus den Reihen der Taliban bestärkt. Mit sexualisierter Gewalt bestrafen sie auch Frauen und Mädchen, die verbotenerweise im öffentlichen Raum unterwegs sind. Auch Schul- oder Universitätsbesuche und die Berufstätigkeit ist Afghan*innen untersagt. Lesben, die von den Taliban oder anderen Kriminellen vergewaltigt werden, erhalten weder Sicherheit noch Gerechtigkeit. Selbst die Nutzung von Handys ist ihnen verboten, weshalb es für Unterstützer*innen schwer ist, in Kontakt zu bleiben. F* stellte klar: Die Taliban wollen nicht nur sexuelle Minderheiten, sondern auch deren Familien bestrafen und einschüchtern. Geldtransfers nützen den Betroffenen wenig, da sie sich nicht in der Öffentlichkeit bewegen dürfen. Eine Flucht scheitert bereits an den Beschränkungen und Verboten beim Zugang zu einem Pass.

Laut F* werden Homosexuelle für Naturkatastrophen, z. B. Erdbeben, verantwortlich gemacht und bei der anschließenden Verteilung von internationaler Nahrungsmittelhilfe verprügelt. Auf der Flucht aus Afghanistan sind sie mit sexueller Gewalt durch Schlepper und staatliche Sicherheitskräfte konfrontiert, auch in der Türkei und an den EU-Außengrenzen durch die vielfach tödlichen Pushbacks der Frontex-Grenzschutzeinheiten. In Flüchtlingsunterkünften in Europa werden Schwule aus Afghanistan von anderen Heimbewohnern homophob angefeindet, und etliche Gay-Clubs in den europäischen Metropolen haben Einlassverbote für Gays aus bestimmten Ländern erlassen, dazu zählt Afghanistan.

F* forderte: LSBTIQ* brauchen gleichberechtigten Zugang zu humanitärer Hilfe und müssen systematisch in humanitäre Programme integriert werden. Ebenso wichtig ist die Überwindung von Straflosigkeit, denn bislang schütze das internationale Strafrecht LSBTIQ* nicht. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hätte noch nie wegen Gewalt an LSBTIQ* verhandelt. Straflosigkeit fördert allerdings die Gewaltübergriffe und verhindert Gerechtigkeit. Die UN-Mitgliedstaaten sollten sichere Fluchtwege für LSBTIQ* schaffen. F* unterstrich: Dafür setzten sich der LSVD+ Verband queere Vielfalt und Unterstützungsnetzwerke in Kanada bereits ein.

Post-Konfliktländer: Frieden, Gerechtigkeit und Übergangsjustiz

K* aus Kolumbien skizzierte wesentliche Aspekte des dortigen Friedensprozesses und der Lobbyarbeit zur Einbeziehung von LSBTIQ*-Interessen in den Friedensvertrag. Denn sexuelle Minderheiten waren von der Gewalt im jahrelangen Bürgerkrieg besonders betroffen; dazu zählten sexualisierte Übergriffe, Vertreibungen und Zwangsrekrutierungen, etwa in Guerillagruppen. Um so wichtiger ist ihre umfassende Integration in die gesamte Friedensarbeit, den Wideraufbau und die Übergangsjustiz, nicht nur in Kolumbien sondern auch in anderen Nachkriegsländern. Nur so können zentrale Elemente der UN-Resolution 1325 zu Prävention, Partizipation, Schutz und Zugang zu Hilfe verwirklicht werden, denn homo-/transphobe Gewaltübergriffe finden in den von martialischer Maskulinität geprägten Post-Konfliktgesellschaften auch nach einem offiziellen Friedensschluss statt. Sie normalisiert sich, wenn sexualisierte Kriegsgewalt gegen queere Menschen straffrei bleibt.

Notwendig ist eine Rechenschaftspflicht für Gewalt gegen LSBTIQ*-Menschen, deshalb ist auch der UN-Sicherheitsrat zum Handeln aufgefordert. Gleichzeitig besteht für humanitäre Organisationen auch in oftmals noch instabilen Post-Konfliktländern die Aufgabe, durch die systematische Integration von LSBTIQ*-Menschen die Kolonialität humanitärer Interventionen zu überwinden.

Die diesjährige ILGA-Weltkonferenz bot den Teilnehmenden Plattformen, um über die Dringlichkeit dieser Anliegen zu diskutieren und sich über ihre Arbeit zu diesen wichtigen friedenspolitischen, humanitären und menschenrechtlichen Themen auszutauschen.

Dr. Rita Schäfer, freiberufliche Afrikawissenschaftlerin

Ein Artikel im Rahmen des Projekts Kulturen und Kolonialismus — Der Kampf um die Menschenrechte von LSBTIQ* im Licht der Debatte um Dekolonisierungder Hirschfeld-Eddy-Stlftung.

BMJ
HES


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