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Kinder 404. Not found

Russische LSBT-Teenager und ihr einziger Freiraum

F01 - Kinder404 collageAufwachsen ist kein Kinderspiel, das lernt man spätestens auf dem Schulhof: Bis man als junger Mensch einigermaßen mutig und selbstbewusst durchs Leben schreiten kann, gilt es einige peinliche und mitunter leidvolle Momente durchzustehen. Mathe-Arbeiten, Pickel, Liebeskummer. Es ist die Zeit der großen Gefühle: Mädchen verlieben sich in Jungs – und andersrum. Einige Mädchen vergucken sich plötzlich in ihre beste Freundin und einige Jungs in ihren besten Kumpel. Es ist die große, spannende Erkundungsphase. Mit Politik hat das wenig zu tun – weil Pubertät eigentlich eine unpolitische Angelegenheit ist. Ich schreibe: Eigentlich. Denn für russische Teenager – und vor allem jene, die sich nicht der heterosexuellen Mehrheit zuordnen – sieht die Sache anders aus. Seit dem 30. Juni 2013 verbietet in Russland ein Gesetz „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen.“ – Dieser merkwürdige Titel bedarf der Übersetzung: Unter den „nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen“ versteht der russische Gesetzgeber alle homo‑, bi- oder transsexuellen Beziehungen, als „Propaganda“ gilt jede tolerante Äußerung in der Öffentlichkeit. Was aber hat es mit der Ergänzung „gegenüber Minderjährigen“ auf sich? Die suggerierte Sorge um das Kindeswohl transportiert zwei perfide Vorstellungen: Zum einen, dass Homosexualität erworben wird. Zum anderen, dass sich jedes Kind „normalerweise“ zum heterosexuellen Wesen entwickelt. Kurzum: Wer schwul, lesbisch liebt oder transsexuell ist, gilt als unnatürlich und krank. Und Krankheiten sind ansteckend.

404 not found

Leider teilt die größte Mehrheit der russischen Gesellschaft diese Vorstellungen des Kremls. Für LSBT-Teenager ist damit das Erwachsenwerden nicht nur das ohnehin schwierige „coming-out“ vor den Eltern oder in der Schulklasse, sondern die Angst vor einer repressiven Gesellschaft und die Verdrängung durch staatliche Verfolgung. Wer so kriminalisiert wird, zieht sich zurück und einer der Freiräume, die es in Russland noch gibt, nämlich das Internet. In der russischen Variante von Facebook „Vkontakte“ (dt.: „Im Kontakt“) haben hunderte LSBT-Teenager eine Gruppe gebildet und nennen sich „Kinder 404. Not found“. Mit dem Namen spielen sie auf die Fehlermeldung 404 an, wenn ein Computer eine Webseite nicht finden kann. Auch sie können nicht gefunden werden und wollen es auch nicht. Zwar fotografieren sie sich selbst und laden diese Bilder ins Internet, fast immer aber verdecken sie ihr Gesicht mit dem Plakat „Kinder 404: Wir existieren!“. Unter den Bildern erzählen sie ihre Geschichten. Es sind Geschichten, die von Angst erzählen. Sergej, 15: „Meine Mutter hat zufällig erfahren, wer ich wirklich bin. Sie wollte es nicht glauben und schiebt es auf die Pubertät. Ich soll zu einem Psychiater gehen. Sie will, dass ich mich von meinem Freund trenne. Ich versuche, ihr zu sagen, dass ich so bin, wie ich bin, aber sie bestreitet das. Sie will Enkelkinder. Und ich möchte glücklich mit meinem Freund sein.“

Es ist ein häufiges Thema, dass die Eltern – wenn sie davon wissen – ihr Kind zum Psychiater, ins Krankenhaus oder in die Kirche bringen, um ihr Kind heilen zu lassen.

Die Gruppe „Kinder 404“ war eine spontane Vereinigung. Nach der Erscheinung ihres Artikels gegen Homophobie hat Lena Klimova, eine Journalistin aus einer kleinen Stadt Russlands, einen Brief bekommen: „Ich bin lesbisch und ich bin 15. Ich kann das alles nicht mehr durchhalten. Meine Kommilitonen hetzen gegen mich, meine Mutter bestreit meine Sexualität. Ich wollte sterben. Ich habe Ihren Artikel gelesen. Ich habe meine Absicht geändert.“ Nach diesem Brief hat alles begonnen: neue Artikel gegen Homophobie, neue Briefe und E‑Mails aus unterschiedlichen Ecken Russlands von ebenso unglücklichen Teenagern. Alex, 16: „Das schlimmste im Schulleben ist die öffentliche Meinung. Die Meinung, die hart und fest in jedem Gemeinwesen bestimmt und danach jedem eingehämmert wurde. Die Meinung, die man sogar in den Schulfluren spürt, wenn man nach Hause geht. Neulich haben meine Kommilitonen erfahren, dass ich schwul bin. Sie erklärten mir Boykott, ignorieren mich, lachen hinter dem Rücken, niemand setzt sich neben mich. Jungs fragen mich laut in den Schulfluren, wann ich das letzte Mal verprügelt wurde. Die Meinung schlägt mich in den Rücken, drückt mit dem Bein nieder, lässt mich nicht aufrichten.“ 

Angst vor der Ablehnung, alltägliches Mobbing und unerträgliche Gewalt zwingen LSBT-Jugendliche schicksalhafte Entscheidungen zu treffen. Und Manchmal berichten auch Freunde in der Gruppe Kinder-404, wie stark solche Hetze treffen kann. Daria, 20, Irkutsk: „Mein guter Freund Andrej war immer schüchtern, gutmütig und nett. Nach einem bösen Scherz von seinem Kommilitonen hat er aufgehört in die Schule zu gehen. Der Kommilitone hat durch einen falschen Account in „Vkontakte“  mit Andrej geflirtet und als Andrej nach einer Weile sich doch getraut hat, ihm seine Liebe zu erwidern, hat die Schule sofort über seine Homosexualität erfahren. Als Andrej nach einem knappen Monat in der Schule erschien, lächelten alle Kommilitonen stumm. Nach dem Unterricht haben sie ihn hinter dem Schulhof brutal verprügelt: Blutergüsse auf dem ganzen Körper, Gehirnerschütterung, Knochenbrüche. Ich war jeden Tag bei ihm. Erst nach einem Monat wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Er hat mir versprochen, dass wir uns abends treffen. Als ich zu ihm kam, öffnete seine Mutter in Tränen mir die Tür und sagte, dass er heute Morgen vom 14-en Stock heruntergesprungen sei.“

Andere LSBT-Jugendliche wollen das sie hassende Land verlassen und bereiten sich darauf vor, in ein „gay-friendly“ Land auszuwandern. Artur: „Ich habe erfahren, dass es in den USA eine Gruppe der schwulen Migranten gibt. Sie zieht da kaum Aufmerksamkeit auf sich. Ein Bekannte von mir will jetzt auswandern und er meinte, solche Migranten hätten noch keine Absage fürs Asyl bekommen. Er wird einem zuverlässigen Anwalt aus New York fünftausend Dollar für seine Arbeit bezahlen. Leute, die bald 18 werden, denkt ihr doch darüber nach! Man braucht ja nur Englisch zu lernen und das Geld zu verdienen oder zu sparen.“

Leider ist dem Autor dieses Briefs nicht bekannt, dass er in Deutschland sogenanntes „Asyl aus humanitären Gründen“ beantragen kann. Diejenigen, die in ihrem Herkunftsland angesichts ihrer Sexualität verfolgt wurden und keine Schutz in eigenem Land finden können, können in Deutschland die Hilfe finden und als Asylsuchenden oder Flüchtlinge anerkannt werden. Außerdem ist es möglich kostenlose Beratung bei vielen Organisationen in Deutschland zu bekommen.

Die Gruppe „Kinder-404“ hat nur einige LSBT-Jugendliche „sichtbar“ gemacht. Die Geschichten zeigen, wie schutzlos sie sind und wie gefährlich Gleichgültigkeit ist. Weil ihr Selbstvertrauen erschüttert ist und sie wegen Verfolgung und mangelnder Unterstützung ihr Potential nicht ausschöpfen können, werden wir das wahre Ich dieser Jugendlichen nie kennenlernen. Um in dieser Gesellschaft bestehen zu können, müssen sie sich in „durchschnittliche“ und „konforme“ Menschen verwandeln.

Leider verstehen der russische Staat und, was noch bedauerlicher ist, dEpifanova, Alenaie russische Gesellschaft nicht, dass Liebe, wie der Dichter Lew Rubinstein schrieb, immer Liebe bleibt, egal in welchen Formen sie sich äußert.

 

Alena Epifanova

Der Beitrag erschien in ähnlicher Form zunächst in der Zeitschrift freiraum, Magazin der  Stipendiaten und Altstipendiaten der FNS

Seiten des Projekts «Kinder 404»:

https://vk.com/deti404_vk

https://www.facebook.com/children.404

 

siehe auch:

Strafanzeige wegen «Homo-Propaganda» gegen die Leiterin der Gruppe für LGBT-Jugendliche «Kinder 404»

 



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