Einladung (Invitation english)
Karam Aouini von Mawjoudin — Partnerorganisation der Hirschfeld-Eddy-Stiftung in Tunesien — spricht bei einer Veranstaltung in Berlin über seinen Aktivismus und seinen Artivismus, der Kunst im Zentrum hat.
Die Gruppe Mawjoudin (arabisch für „we exist“) veranstaltet das Queer Film Festival in Tunis, macht Beratung, Workshops und neuerdings auch Theater, ein Queer Play. Karam Aouini ist bei Mawjoudin für Kommunikation zuständig und war im Juli 2022 Gast in Berlin und Köln. Wir dokumentieren das Gespräch mit ihm beim Vernetzungstreffen mit der Hirschfeld-Eddy-Stiftung und Gästen.
„Artivism ist ein mächtiges Werkzeug, um feindselige Einstellungen gegen unsere Community zu bekämpfen, und es ist eine schöne, andere und mächtige Art, das Bewusstsein für mehr LGBTIQ-Akzeptanz zu schärfen”, sagt Karam Aouini, Organisator des ersten Queer Filmfestivals in Tunis und Mitarbeiter der LGBTIQ-Organisation Mawjoudin in Tunis. Artivism, das ist eine englische Wortschöpfung aus art und activism, die zum Ausdruck bringt, dass mit künstlerischen Mitteln aktivistisch gearbeitet wird. Mawjoudin tut dies im LGBTIQ-Bereich.
Mawjoudins Themenspektrum ist allerdings viel breiter. Neben der Arbeit mit Migrant*innen auf der Flucht, die sich in Tunesien oder auch in Europa befinden, bietet Mawjoudin breit angelegte Beratungs- und Sensibilisierungsarbeit durch Workshops und Trainings für Einzelpersonen zu denen Themen Coming-Out, Resilienz, Festigung des Selbstwertgefühls.
Außerdem bietet Mawjoudin Trainings für Firmen oder andere NGOs an, die im Umgang mit Lesben, Schwulen und Trans* unsicher sind und mehr Offenheit an den Tag legen wollen. Mawjoudin betreibt außerdem ein Safe House, in dem LSBTIQ unterkommen können, die akut bedroht sind. Zur rechtlichen und gesellschaftlichen Situation von LGBTIQ in Tunesien gaben zwei Kolleg*innen im vergangenen Jahr in einem Online talk der Hirschfeld-Eddy-Stiftung umfassend Auskunft: https://www.lsvd.de/de/ct/4891-lsbti-in-tunesien-land-der-widersprueche
Karam engagiert sich für den Kampf gegen Gewalt und Diskriminierung aufgrund der geschlechtlichen Identität und der sexuellen Orientierung. Seit 2016 ist er Kommunikationsbeauftragter und künstlerischer Koordinator der Initiative Mawjoudin für Gleichberechtigung. Er verantwortet neben dem Queer Filmfestival auch „The Mawjoudin Queer Play”.
Artivism ist ein mächtiges Werkzeug
Drei Filmfestivals hat unsere Partnerorganisation in Tunis bereits organisiert und ein queeres Theaterstück vorbereitet, das in den kommenden Monaten im ganzen Land aufgeführt werden wird. Das erste Filmfestival präsentierte Filme aus der MENA-Region, das zweite aus dem Globalen Süden, und für die dritte Ausgabe hat Mawjoudin auch drei internationale Produktionen aus dem Norden eingeplant.
Karam erläutert, wie er und die Kolleg*innen es schaffen, queere Filmfestivals und queere Produktionen in einem LSBTIQ-feindlichen Kontext zu organisieren. Wie kann vermieden werden, dass das Vorhaben nicht scheitert, dass mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird? Was kann gemacht werden, was sollte unterbleiben? „Kunst ist eine Alternative zur Politik, Filme oder Theaterstücke scheinen sicherer als politische Events“, sagt Karam. „Sie bieten vielleicht weniger Angriffsfläche, die Behörden lassen mehr durchgehen. Und wir können mit diesen Produktionen dennoch unsere Botschaft befördern und so für ein Umdenken sorgen.“
Karam spricht über die Überzeugungskraft und Wirkung von künstlerischen Produktionen. Sie seien besonders geeignet, die Herzen der Menschen zu erreichen und für Einstellungsveränderungen zu sorgen, da sie für Sichtbarkeit sorgen, Themen anschaulich und nachhaltig vermitteln und bei den Menschen Empathie und Toleranz stärken können.
Fehlende Sichtbarkeit von LGBTIQ in Tunesien sei ein Problem. Das hänge mit der Kriminalisierung und eben auch mit LGBTIQfeindlichen Einstellungen in der Gesellschaft zusammen. Ein Teufelskreis. Den gelte es zu durchbrechen, durch geeignete Tools wie sensible, empathische Filme, Romane oder Theaterproduktionen. Dass es möglich ist, in einer Stadt wie Tunis ein queeres Filmfestival zu durchzuführen, zu dem bis 500 Besucher*innen kommen, das hat Mawjoudin eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Inspiration durch Zusammenarbeit in der Region
Karam schildert die regionale Zusammenarbeit, die gegenseitige Inspiration und den Austausch mit Aktivist*innen in Marokko oder aus dem Libanon. Er spricht über die Notwendigkeit von Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Organisationen in Tunesien und erklärt, warum dem Thema Inklusion im LGBTIQ-Aktivismus und eben auch im LGBTIQ artivism eine große Rolle zukommt. „In unserem Theaterstück bauen wir einfach einen queeren Charakter ein. In Workshops mit thematisieren wir Sinn und Zweck mit der gesamten Truppe“, so Karam. „Wir suchen auch den Kontakt zu Kulturorganisationen im ganzen Land, das braucht natürlich Zeit, aber langfristig ist das wichtig. Das Stück wird dann immer wieder im ganzen Land aufgeführt.“
Risiko Sichtbarkeit
Natürlich berge Sichtbarkeit auch Risiken, es gehe darum Gewalttaten und Übergriffe von vornherein zu vermeiden. Um das Risiko gering zu halten, machen die Organisator*innen zunächst Datum, Veranstaltungsort nicht öffentlich, beides werde nur innerhalb geschützter Gruppen weitergegeben.
Poster und Werbung für Festivals und Theaterstücke seien unaufdringlich und zurückhaltend, Gesichter werden nie gezeigt. Der Schutz der Künstler*innen stehe immer im Vordergrund. Inklusion sei alternativlos, gerade für die eigene Community. Wo wenn nicht hier, in künstlerischen Produktionen, könne die gesamte Vielfalt abgebildet werden? Die Stücke seien bunt, einige Charaktere non-binär, Schminke und Kleidung kommen eine besondere Bedeutung zu.
Doch nicht nur die eigene Community habe man im Blick, sondern auch das große Publikum. „Wir verfolgen die Strategie der queers and allies, wir suchen Verbündete, egal ob Intellektuelle, Leute aus den Bereichen Medizin, Justiz, Menschenrechte.“ Man kooperiere mit Frauen-Filmfestivals in der Region, sorge dafür, dass dort auch Filme gezeigt werden mit lesbischen oder Trans*-Charakteren.
Förderung durch westliche Staaten werde nicht verschwiegen, aber auch nicht in den Vordergrund gestellt. Es könne nicht immer das Logo des ausländischen Mittelgebers auf Plakaten platziert werden. Das bitten die Kolleg*innen um Verständnis. Von Mittelgebern lasse man sich da nicht unter Druck setzen. „Wir machen es auf unsere eigene Art und Weise oder wir lassen es sein“, betont Karam.
Queer Art: Kunst ist einfacher als Politik
Den Vorwurf, Mawjoudin verfolge eine westliche Agenda, lasse man nicht unkommentiert stehen. Vielmehr verweisen die Kolleg*innen darauf, dass sie auch von der eigenen Regierung immer wieder zu Workshops eingeladen werden, dass man auch mit den Behörden in Tunis zusammenarbeite. Generell sei es wohl einfacher mit ausländischen Kulturinstituten zusammenzuarbeiten als mit westlichen Botschaften. Viele Menschen kennen die Institute von Sprachkursen, und es gehe eben um kulturelle, nicht per se um politische Fragen.
Mawjoudins Arbeit in Tunesien ist schon eine kleine Erfolgsgeschichte, die über die Grenzen des Landes bekannt geworden ist und die für die Anerkennung der Kolleg*innen in den Nachbarländern sorgt. Dort scheinen solche queer artivistischen Aktivitäten noch in einer mehr oder weniger entfernten Zukunft zu liegen. Doch Wandel ist möglich. Es braucht Zuversicht und langen Atem. „Als ich vor einigen Jahren mit dieser Arbeit anfing, hätte ich nie gedacht, dass wir einmal solche Dinge würden machen können. Das ist schon unglaublich“, freut sich Karam.
Sarah Kohrt und Klaus Jetz, Hirschfeld-Eddy-Stiftung
Links und Hintergrundinformationen:
- Mawjoudin-Webseite
- Mehr zu Tunesien im Blog der Hirschfeld-Eddy-Stiftung
- Alle Artikel zu Tunesien im Blog der Hirschfeld-Eddy-Stiftung hier
- Link zum Online talk mit Mawjoudin-Aktivist*innen
Ein Beitrag im Rahmen des Projekts „Do no harm – Risiken für LSBTI in der internationalen Projektarbeit minimieren“ der Hirschfeld-Eddy-Stiftung. Alle Artikel im Rahmen des Projekts sind im Blog unter dem Tag „DNH-2022“ zu finden.