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Marokko: Verboten, aber nicht verfolgt

Samir Bargachi ist 23 Jahre jung. Er lebt in Tanger. Als Journalist gibt er die schwullesbische Zeitschrift Mithly („Ich selbst“) heraus. Zugleich ist er als Koordinator von Kifkif („Von gleich zu gleich“), einer der ersten LGBTI-Organisationen Nordafrikas, auch als Aktivist tätig. „Ich gehöre zu den wenigen offen schwul lebenden Marokkanern. Sichtbarkeit ist der Schlüssel für Veränderung, und da spielen die Medien eine herausragende Rolle.“

Die Zeitschrift Mithly wurde 2009 gegründet. Als Motiv nennt Samir die weit verbreitete Homophobie im Land, die von den Medien transportiert wird. „Wir wollten uns ein eigenes Medium schaffen, mit eigener Stimme sprechen und unserer Gesellschaft mitteilen, dass wir nicht „shawad“ (deviant, abweichend, im Arabischen abwertende Bezeichnung für homosexuell), sondern ganz normale Bürgerinnen und Bürger sind.“ 

Homosexualität ist in Marokko illegal, aber die Regierung, so Samir, schaue weg, „wir haben für den Staat keine Priorität.“ Da Homosexualität kriminalisiert wird, gibt es in Marokko keine registrierten, staatlich anerkannten LGBTI-Organisationen. „Aber seit 2004 gibt es Kifkif. Auch wenn wir nicht offiziell anerkannt sind, so organisieren wir doch verschiedene Aktivitäten, klären auf, informieren, werben für Toleranz. Wir sind in allen größeren Städten, besonders an den Universitäten präsent.“

Die aktuelle Situation in Marokko unterscheidet sich von den Ereignissen in den anderen nordafrikanischen Ländern, es gibt weniger Gewalt, keinen Aufstand, es ist eher ruhig. „Wir haben mehr als 50 legale politische Parteien, das gibt es weder in Tunesien, noch in Ägypten oder Libyen. Der König genießt großen Respekt in der Bevölkerung, und die Regierung hat seit 2000 wichtige Reformen durchgeführt. Dennoch gibt es täglich Demonstrationen für oder gegen die verschiedensten Dinge.“ Und die Presse, so Samir, sei größtenteils frei und unabhängig.

Regierungsnahe Medien versuchten zunächst, „die Bedeutung der Ereignisse in den Nachbarländern herunterzuspielen, aber in Marokko klappt es nicht, Informationen zu unterdrücken. Mehr als 60 % der Haushalte haben Satelliten-Fernsehen und Marokko ist das arabische Land mit den meisten Internet-Anschlüssen. Das weiß die Regierung, und deshalb informiert sie über die Ereignisse, wenn auch zurückhaltend und vorsichtig.“

Für Samir sind die Zustände in Nordafrika unhaltbar. „Die Jugendlichen, also die Mehrheit der Bevölkerung, sind sehr verzweifelt. Gebildete Leute mit Verbindungen in alle Welt sind arbeitslos und haben keine Perspektive. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer Explosion kommen würde, wie wir sie gerade erleben und bei der islamistische Strömungen, da muss man immer wieder betonen, überhaupt keine Rolle spielen.“

Ja, für Samir sind die Ereignisse vergleichbar mit dem Umbruch in Osteuropa vor 20 Jahren. „Die arabische Welt, vor allem Nordafrika, hat Verbindungen rund um den Globus, die Menschen sind gebildet und niemand hat mehr Angst, die Diktaturen haben ihre Abschreckung verloren.“ Das trifft wohl auch auf Lesben und Schwule zu, die in den großen Städten leben, wo sie an Protesten teilnehmen. In den Dörfern des Hinterlandes sei die Situation völlig anders. Zurzeit gebe es eine „reife und interessante Debatte über individuelle Freiheiten im Land. Linke Parteien und unabhängige Organisationen unterstützen einen Großteil der LGBTI-Bewegung.“ Prioritär sei jetzt die Entkriminalisierung von Homosexualität.

Der Schlüssel für eine positive Veränderung sei die Erziehung. „Viele Leute in Marokko haben falsche Vorstellungen von Homosexualität. Sie glauben, sie sei ein Produkt des Westens. Lesben und Schwule, wir Aktivistinnen und Aktivisten haben da eine große Aufgabe vor uns, wir haben aber auch geschulte Leute und immer weniger Angst, uns der Situation zu stellen, brauchen aber mehr Unterstützung durch die Medien. Der Staat will uns nicht helfen, auch weil er Angst vor den Islamisten hat.“

Zwar sei die jetzige Regierung nicht wirklich homophob, so Samir, aber „die marokkanische Gesellschaft ist sehr religiös und eine der konservativsten der Welt. Die Religion hat großes Gewicht in Politik und Gesellschaft.“ Er sehe für Marokko aber nicht die Gefahr einer Radikalisierung in Richtung politischer, fundamentalistischer Islamismus. „Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass der Wandel nicht in einen islamistischen Staat führt. Aber in den Nachbarländern ist diese Gefahr größer.“

Von Europa wünscht sich Samir „weniger Heuchelei und mehr Unterstützung für die Menschenrechte am Südrand des Mittelmeeres. In gewisser Weise betrachtet Europa uns als Mauer gegen die Einwanderung und den radikalen Islamismus. Daher auch die Zusammenarbeit mit den Regierungen der Region. Marokko ist wirtschaftlich von Europa abhängig. Wenn Europa Druck ausübt, ändern sich sicherlich viele Dinge.“ Hoffnung, dass das geschieht, hat Samir aber nicht.

www.mithly.net und www.kifkifgroup.org

Klaus Jetz, LSVD-Geschäftsführer



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