16-08-2016
Ich bin schwul. Das war ich schon immer. Vor meinem Coming-Out war das Wissen über meine Homosexualität nur in meinem Kopf. Niemand sonst wusste davon. Dadurch hat es sich auch oft nicht so real angefühlt. So abwegig es mir manchmal vorkam, so normal und allgegenwärtig war es aber gleichzeitig. Auch wenn es nicht immer präsent war, war es doch immer im Hinterkopf, gemeinsam mit den großen, mir damals ausweglos erscheinenden Fragen: Wie werde ich in Zukunft damit umgehen? Wird es jemals jemand erfahren? Wie wird mein Privatleben aussehen? Wie kann ich unter diesen Umständen glücklich alt werden? Dass dies kein Dauerzustand war, war mir insgeheim irgendwie klar. Trotzdem war die Vorstellung eines Coming-Out total absurd, auch wenn ich schon mehrmals kurz davor war, mich bei meiner Schwester per Textnachricht zu outen. Hin und wieder, meist als Folge eines emotionalen Downs, hatte ich sogar schon lange Texte geschrieben. Doch der Schritt, auf „Senden“ zu drücken, erschien mir so gewaltig. Zu gewaltig.
Auch wenn mir die Dringlichkeit, mich zu outen, ständig bewusst war, kam es doch so überraschend. Es klingt nahezu perfekt – am Strand irgendwo in Vietnam, Meeresrauschen, verschwommene Lichter am Horizont. Meine Schwester und ich. Gespräche über das Leben. Ob bei mir alles klar sei. Und plötzlich kam bei mir dieses Gefühl auf, als wäre dieser Zeitpunkt der richtige, als würde dann alles leichter. Ich konnte mich aber wieder einmal nicht überwinden. Obwohl doch alles gepasst hätte. So nah dran.
Den kompletten darauffolgenden Tag habe ich einen inneren Konflikt ausgefochten: Soll ich? Soll ich nicht? Allein der Gedanke an diese Situation hat in mir immer wieder starkes Herzklopfen ausgelöst. Die Vorstellung, mich am folgenden Abend bei meiner Schwester zu outen, kam mir so gewaltig und krass vor, doch gleichzeitig so unumgänglich und goldrichtig. Den ganzen Abend hypernervös, kam es dann aus mir raus: „Ich bin schwul, Ca.“ Ein Strahl aus Tränen schießt aus meinen Augen, der symbolisch für die unbeschreibliche Erleichterung steht. Für die fast explosionsartige Entlastung von dem, was ich jahrelang unterdrückt habe. Dieser Moment veränderte mich und mein komplettes Leben so stark wie kein anderer bis dahin. Das irreale, nur in meinem Kopf existierende, wurde erstmals ausgesprochen. Es entkam meinem Kopf, ging über meine Lippen und erreichte die Ohren eines anderen Menschen. Es wurde Realität.
Ich hatte mich dadurch nicht nur bei meiner Schwester geoutet, sondern auch bei mir selbst. Die darauffolgenden Wochen und Monate habe ich mich intensiv mit meiner sexuellen Identität auseinandergesetzt. Ich habe mich anders gefühlt, glücklich damit, wie ich bin. Habe auf einmal erkannt, wie absurd die Situation vor meinem Coming-Out war. Wie absurd meine Sorgen über die Zukunft waren. Ich habe erkannt, dass mir ein tolles Leben mit wundervollen Möglichkeiten bevorstand. Die beste Entscheidung meines Lebens.
17-08-2016
Die Erfahrungen, die ich durch das Coming-Out über Menschen mache, sind interessant. Bisher bin ich ausschließlich mit positiven Reaktionen konfrontiert worden. Speziell bei meinen engen Freunden ist dieser Punkt sehr wichtig. Er entscheidet gewissermaßen, wie wichtig eine Freundschaft in Zukunft sein wird.
Auch meine Eltern haben mit offenen Armen und Herzen reagiert. Mama brach (zusammen mit mir) in Tränen aus, was in diesem Kontext schlichter Ausdruck ihrer unendlichen Liebe war. Papa war überrascht, zeigte sich aber irgendwie gelassen und hatte direkt einen passenden Spruch zur Hand.
IHR LACHT ÜBER MICH, WEIL ICH ANDERS BIN. ICH LACHE ÜBER EUCH, WEIL IHR ALLE GLEICH SEID.
– Kurt Cobain
Es ist wahnsinnig schön, in einer so umbruchvollen Zeit von der Familie so viel Rückendeckung zu bekommen. Dafür bin ich unglaublich dankbar.
28-08-2016
Wahnsinn, dieser Fortschritt!
Ich denke an den Moment zurück, an dem meine Schwester (kurz nachdem sie erfuhr, dass ich schwul bin) meinte, ich könne mich doch auf eine super Zeit freuen, wenn es erstmal alle meine Freunde wissen. Meine Reaktion war anscheinend ein zutiefst verängstigter Blick, der Gedanke daran kam mir zu diesem Zeitpunkt weiterhin so absurd und weit weg vor. Doch der Fortschritt war enorm. Heute sitze ich hier, circa ein halbes Jahr später, und quasi alle wissen Bescheid. Ich sitze hier und schmunzle darüber, wie man beobachten kann, wie die Nachricht ihre Kreise zieht. Schmunzle darüber, wie ich auf einmal die Aufmerksamkeit von Leuten erhalte, deren Namen ich noch nie gehört habe. Es fühlt sich gut an, dass die „frohe Botschaft“ jetzt an die Öffentlichkeit kam. Ich fühle mich wohl damit, dass es jetzt alle wissen. Mehr noch, ich fühle mich selbstbewusst damit. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl, dieses Selbstbewusstsein erreicht zu haben. Das kann mir jetzt keiner mehr nehmen. Proud as fuck.
Meine Schwester hat mich auf diesem Weg stets am meisten begleitet und unterstützt, und ich kann nicht in Worte fassen, wieviel mir das bedeutet. So eine wertvolle Beziehung.
Seit einigen Monaten bin ich so froh, schwul zu sein. Könnte ich es ändern, ich würde es nicht mehr wollen. Früher dachte ich: „warum ausgerechnet ich?“ – jetzt denke ich: „geil, ausgerechnet ich!“ Es soll so sein. Und es ist gut so. Allein durch die Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Monate bereichert dieses ganze Abenteuer mein Leben jetzt schon so stark. Und es wird noch mehr kommen. So viel mehr.
Jetzt werde ich mich die nächsten Monate an die Situation gewöhnen, dass es alle wissen. Werde meine Freunde daran gewöhnen lassen, falls sie es müssen. Geile Zeiten mit ihnen erleben. Dann nächstes Jahr ins Ausland abhauen für ein paar Monate. Viel entdecken, Leute kennenlernen, Sport machen. Geile Zeit vor mir. Geiles Leben.
Philipp
(der vollständige Name ist der Reaktion bekannt)