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Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Rückblick nach vorn

Unsere historische Verpflichtung

Homosexualität ist gesellschaftlich geächtet, für Sex zwischen Männern droht Gefängnis. Die Polizei unternimmt häufig Razzien an Schwulen-Treffpunkten und führt penibel Homosexuellenkarteien. Jährlich werden mehrere tausend Männer wegen gleichgeschlechtlicher „Unzucht“ angeklagt und verurteilt. Die sehr einflussreichen Religionsgemeinschaften verdammen schwule und lesbische Liebe als schwere Sünde. In der Öffentlichkeit wird Homosexualität tabuisiert, die Selbstorganisation von Schwulen und Lesben durch die Behörden behindert. Durch Strafbarkeit und gesellschaftlicher Ächtung sind Homosexuelle fast schutzlos Erpressern ausgeliefert. Bei einem „Outing“ droht ihnen der Verlust der bürgerlichen Existenz. Oft werden sie von ihrer Familie verstoßen, enterbt, am Arbeitsplatz gekündigt.

Bürgerrechtliche Kritik an der Homosexuellen-Verfolgung weist die Regierung zurück und bekräftigt, „daß ein Tatbestand, der gleichgeschlechtliche Handlungen auch unter erwachsenen Männern mit Strafe bedroht, aufrechterhalten werden muß. Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“

Nachrichten aus einer finsteren Diktatur in einem unterentwickelten, weit entfernten Land? Nein, vielmehr eine Beschreibung der rechtlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er und frühen 1960er Jahre. Das obige Zitat stammt aus einem von der Bundesregierung 1962 vorgelegten Entwurf eines Strafgesetzbuches (BT-Drs. IV/650, S. 377). Einige Jahre zuvor, 1957, hatte selbst das Bundesverfassungsgericht den § 175 StGB in seiner aus der NS-Zeit stammenden Fassung für grundgesetzkonform erklärt.

Dabei hatte zwischen 1933 und 1945 in Deutschland eine Homosexuellen-Verfolgung ohne gleichen in der Geschichte stattgefunden. Die Bundesrepublik knüpfte nach 1949 dennoch nicht an die vergleichsweise liberale Praxis der Weimarer Republik an. Homosexuelle galten weiterhin als Gefahr für Familie, Gesellschaft und Staat. § 175 StGB blieb – anders als in der DDR — in der Nazi-Fassung bis 1969 unverändert in Kraft. Das Gesetz wurde auch gnadenlos angewandt. Die bundesdeutsche Justiz sprach in diesem Zeitraum ca. 50.000 Verurteilungen aus. Der Historiker Hans-Joachim Schoeps kommentierte 1963 bitter: „Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch nicht zu Ende“ (in: Der homosexuelle Nächste, Hamburg 1963, S. 86). Nach langen Diskussionen wurde Homosexualität unter erwachsenen Männern 1969 schließlich doch entkriminalisiert, der § 175 aber erst 1994 endgültig gestrichen.

Angesichts dieser Verfolgungsgeschichte hat Deutschland eine besondere Verantwortung, auf internationaler Ebene Menschenrechtsverletzungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität entschieden entgegenzutreten. Die politische Konsequenz aus Verfolgung und ausgebliebener „Wiedergutmachung“ muss heute heißen: besonderer Einsatz für die Menschenrechte von LGBTI weltweit.

Deutschland sollte dabei die eigene Geschichte als Verfolgerstaat keineswegs verschweigen, sondern vermitteln, welch fundamentalen Irrtümern Politik und Justiz in der frühen Bundesrepublik aufgesessen waren, welch positive Effekte dagegen Entkriminalisierung und Liberalisierung gebracht haben und wie alle „Dammbruchs“- und Untergangszenarien komplett widerlegt wurden. Aus der Traditionslinie der Verfolgung von Homosexualität herauszutreten, war ein Gewinn für alle. Freiheitsrechte wurden gestärkt, Menschen wurden vom Rand in die Mitte geholt und können nun ihr Potenzial für die Gesellschaft entfalten.

Gesellschaftliche wie rechtliche Diskriminierungen sind auch bei uns längst noch nicht Vergangenheit, aber doch erheblich zurückgedrängt. Unsere Geschichte zeigt, dass ein grundlegender Wertewandel stattfinden kann, wenn eine Gesellschaft bereit ist, allgemeine menschenrechtliche Standards auch auf Bürgerinnen und Bürger mit anderer sexueller Identität anzuwenden. Denn Verachtung von Schwulen und Lesben ist kein Naturgesetz, sondern ein unseliger Traditionsrest aus vordemokratischer Zeit. Homophobie ist zwar eine äußert hartnäckige Angelegenheit, aber dennoch eine gesellschaftliche Krankheit, die überwunden werden kann.

Gekürzte Fassung aus Yogyakarta Plus. Schriftenreihe der Hirschfeld-Eddy-Stiftung, Bd. 2

Günter Dworek, LSVD-Bundesvorstand



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