Zusammenfassung der Konferenz “Kulturen und Kolonialismus” vom 24.10.2024 in Berlin mit rund 100 Gästen und vollem Programm.
Die internationale Konferenz „Kulturen und Kolonialismus – Dekolonialisierung und die Menschenrechte von LSBTIQ*“, die im Refugio in Berlin im Rahmen des Projektes „Kulturen und Kolonialismus“ stattfand und von Sarah Kohrt, Hirschfeld-Eddy-Stiftung, organisiert wurde, stellte schon mit ihrem Titel die Weichen für die Diskussion um LSBTIQ*-Menschenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit. Bereits 2017 forderte die Yogyakarta-Allianz unter dem gleichen Titel in Punkt 10 des 13-Punkte Forderungskatalogs an die Bundesregierung vom BMZ ein Sonderprogramm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
Das unterstrich Axel Hochrein, Vorstand der Hirschfeld-Eddy-Stiftung, in seinem Grußwort. Er erläuterte: „Heute geht es um die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte, um queere Kolonialerfahrungen und um neue Formen der internationalen Solidarität beim Einsatz für die Menschenrechte von LSBTIQ*-Personen. Unser Ziel ist es, postkoloniale und dekoloniale Strategien der Menschenrechtsarbeit zu entwickeln.“
Axel Hochrein stellte klar, dass das koloniale Erbe eine ernsthafte Bedrohung für die universellen und unteilbaren Menschenrechte sei. Denn die europäischen Kolonialmächte haben gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert, und die strafrechtliche Verfolgung von LSBTIQ*-Personen geht in vielen Staaten auf koloniale Gesetze zurück. Der glaubwürdige Einsatz für Menschenrechte von LSBTIQ*-Personen weltweit erfordere eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte, so Hochrein.
Fotos Video Einladung Invite and Program
Einsatz für LSBTIQ*-Rechte weltweit
Max Lucks, Bundestagsabgeordneter (Bündnis 90/Die Grünen) und Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, stellte in seiner Keynote zu Menschenrechten von LSBTIQ* in der Außenpolitik klar: „Der Einsatz für LSBTIQ*-Rechte weltweit ist nicht Neokolonialismus. Sondern es ist ein Einsatz gegen Kolonialismus.“ Lucks betonte: Da der Kolonialismus für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, sei es auch die Verantwortung deutscher Außen- und Menschenrechtspolitik, für Menschenrechte einzustehen. Das stärke zudem den globalen Frieden und die Demokratie. Er verwies auf das LSBTI-Inklusionskonzept der Bundesregierung für die Auswärtige Politik und Entwicklungszusammenarbeit von 2021 sowie den Menschenrechtsansatz in der feministischen Außen- und Entwicklungspolitik von 2023.
Lucks gab zu verstehen: „Gerade in Ländern, in denen LSBTIQ*-Personen, Journalisten oder Frauen bedroht sind, ist es die Pflicht von Demokratien wie Deutschland, ihre diplomatischen und wirtschaftlichen Mittel einzusetzen, um diese Rechte zu verteidigen. (…) So hat die Bundesregierung klare Kritik an den drakonischen Anti-Homosexuellengesetzen in Ländern wie Uganda geäußert und zugleich lokale zivilgesellschaftliche Gruppen unterstützt, die sich für LSBTIQ+ Rechte einsetzen.“
Stella Nyanzi fordert eine Dekolonisierung der Außenpolitik
Dr. Stella Nyanzi, promovierte Medizinanthropologin, Autorin und ugandische Menschenrechtsaktivist*in, derzeit Gast des Writers-in-Exile Program des PEN-Zentrums Deutschland, forderte in ihrer Keynote die Dekolonialisierung der bi- und multilateralen Beziehungen zwischen Geber*innen- und Empfänger*innenländern. Denn nach der politischen Unabhängigkeit, die oft nur ein Flaggenwechsel und kein struktureller Wandel gewesen sei, würden frühere Kolonialmächte als mächtige Geber*innen auftreten. Das wirke sich problemverschärfend auf bestehende patriarchale Hierarchien in heteronormativen Gesellschaften und auf die Exklusion sexueller Minderheiten aus. Dr. Nyanzi erläuterte die kolonialen Kontinuitäten: „Andere Formen der Sexualität wurden unsichtbar gemacht, ausgelöscht, geleugnet und ignoriert. In extremen Fällen wurden nicht-heteronormative Sexualitäten als andersartig, befremdlich, dämonisch pathologisiert und kriminalisiert.“
Keynote Stella Nyanzi im Original (englisch)
Deshalb müssten paternalistische und patronisierende Hierarchien so verändert werden, dass daraus emanzipatorische Arbeitsbeziehungen werden. So kann selbstbestimmte und kontextrelevante Entscheidungsmacht aufgebaut werden, um Interventionen an konkreten Bedürfnissen vor Ort zu orientieren. Wichtig dafür sei kulturell angepasste Kommunikation unter Beachtung lokaler Metaphern und Sprachen. Dr. Nyanzi ist überzeugt: „Selbst in patriarchalen und heterosexistischen Staaten wie Uganda, meinem Heimatland, ist es möglich, Entwicklungshilfe in einer Weise zu dekolonialisieren, dass sie aktuell kriminalisierte LSBTIQ*-Menschen inkludiert.“
Um die (nach)kolonialen Exklusionen zu überwinden, forderte sie: „Es ist wichtig, dass eine nachkoloniale Außenpolitik nicht-konforme Genderidentitäten und gleichgeschlechtliche Sexualitäten partizipativ in unterschiedliche Entwicklungsprogramme inkludiert. (…) Tatsächlich ist es möglich zu verlangen, dass Entwicklungsunterstützung konditional sein sollte und zwar in der Weise, wie Geschlechtergleichheit und Inklusion bestimmter marginalisierter Gruppen implementiert werden.“
Priorität sollte die Unterstützung von Gesetzesreformen und Menschenrechtsfortbildungen für Polizei, Justiz und Medien haben, um die Sicherheit von Individuen und Gruppen zu gewährleisten. Zudem führte Dr. Nyanzi aus: „Die Einbeziehung von queeren Themen in öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, Hausbau, Rechtshilfe, freie Meinungsäußerung, digitale Demokratie ist so wichtig wie Intersektionalität, damit verschiedene Gender und Sexualitäten in Planung, Implementierung, Monitoring und Evaluierung inkludiert werden. Hinzu kommt der Aufbau von Kapazitäten für unterschiedliche Führungspersonen einer Gemeinschaft, damit sie sich für den Menschenrechtsschutz von marginalisierten Bürger*innen – einschließlich LSBTIQ* – einsetzen und es mehr Verbündete gibt.“
Panel-Diskussion
Der anti-koloniale Imperativ: die Unterstützung der Menschenrechte von LSBTIQ* in Afrika
Die Moderator*in Celia Parbey, Journalist*in, wies zu Beginn des Panels noch mal auf die vielfältigen Herausforderungen hin, mit denen LSBTIQ* auf dem afrikanischen Kontinent konfrontiert sind und die aus kolonialen Machtdynamiken resultieren. Davon sei auch die Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit beeinflusst. Deshalb intendiere Dekolonisierung nicht nur die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte, sondern auch mit Veränderungen im Hinblick auf die Frage, wie Macht, Geld und Ressourcen verteilt sind.
Abdullah-wadud Mohammed, stellvertretender Geschäftsführer, LGBT+ Rights Ghana (Eingangsstatement)
„Es ist unser täglicher Überlebenskampf in einem System, das noch aus der Kolonialzeit stammt und wenig Respekt für unsere Leben hat. Es geht um einen anti-kolonialen Imperativ. Wenn man sich fragt, wie Hilfe dekolonisiert werden kann, muss man zunächst hinterfragen, was Hilfe bedeutet. Ist es nicht auch eine Form der Unterdrückung, wenn der Westen diktiert, was der Globale Süden tun soll? Ausländische Hilfe ist an so viele Vorgaben gebunden, wie wir etwas tun sollen. Wir müssen uns also zuerst diese Beziehung anschauen. “You don´t come into my house and tell me what to do.”
Notwendig ist ein Mindestmaß an Respekt, denn es muss klar sein: Queere Menschen haben die Agency [Handlungsmacht] und sie wissen selbst, was das Beste für sie ist. Es geht um Autonomie. Der Grund, warum sie Hilfe beantragen, ist ihre gegenwärtige Lage, die aus der Kolonisierung resultiert. Es gibt eine gewisse Scham, wenn man um Geld bittet. Deshalb sollte die Geber*innenseite ein Mindestmaß an Empathie haben, denn in jedem Antrag steckt viel Arbeit und es ist nicht einfach, um Hilfe zu bitten. Dennoch wird ein 20-seitiger Antrag dann oftmals einfach abgelehnt. Ihr solltet euch fragen, was ist der beste Weg, etwas zu tun und nicht nach dem Motto handeln: ‚Ich habe das Geld. Ich diktiere Dir, was zu tun ist’. Klar ist, dass ihr die Macht habt, aber dieses Machtgefälle verstärkt die ganze Idee der Kolonisierung. Das ist brutal.“
Alex Martin Musiime, Leiter der Rechtsabteilung, Let’s Walk Uganda (Eingangsstatement)
„Ich möchte auf die Verwendung von Sprache eingehen, denn viele Dokumente und Policies [Richtlinien] in der Entwicklungszusammenarbeit nutzen Ausdrücke der westlichen Sprachen. Sie nehmen kaum Genderdiversität und Realitäten an der Basis wahr, obwohl es queere Bezeichnungen in den lokalen Sprachen gibt. Wie formulieren wir also politische Leitlinien und Anträge, die Begrifflichkeiten der Basis in unserer Heimat wiederspiegeln?
In Bezug auf Dekolonialisierung bedeutet das: Der queere Kampf ist mit dem Globalen Norden verbunden, lange wurden nur weiße Schwule als queere Menschen wahrgenommen. Das war das Narrativ und so kam es auch bei uns zu Hause an – als weißes Thema. Wir brauchen also Plattformen, um Menschen mit diversen Identitäten sowie die Realitäten in afrikanischen Gesellschaften abzubilden.
Ein weiterer Punkt ist: Wir müssen mehr in Diskussionen über die Prioritäten einbezogen werden, denn die sind bislang meistens top-down. Dabei sollten die Stimmen von queeren Menschen an erster Stelle stehen, um Policies [Richtlinien] zu formulieren oder bei der Zweckbindung von Mitteln mitzuentscheiden. Ein weiterer Punkt ist die Bürokratie: Es gibt in Deutschland die Bedingung von 25-Prozent-Eigenanteil bei Projektförderungen. Das muss aufhören. Ihr könnt nicht einerseits Basisorganisationen erreichen wollen und gleichzeitig von ihnen verlangen, 25 Prozent des Geldes selbst aufzubringen, um deutsche Fördermittel zu erhalten. Wie wollt ihr eure Arbeit dekolonisieren, wenn ihr verlangt, dass wir eure Standards nutzen. Das ist buchstäblich unmöglich.
Und noch eine Anmerkung zum Geld: Lasst uns in die Ausbildung queerer Menschen an der Basis investieren. Das unterstützt auch die Kommunikation, sodass queere Menschen von dem Leid, das sie erfahren haben, berichten können.
Tina Kleiber, Beraterin für Geschlechtergerechtigkeit im Bereich Internationale Programme, Brot für die Welt (Eingangsstatement)
„Meine Rolle ist, immer wieder zu sagen, wir brauchen Geschlechtergerechtigkeit – do no harm, leave no one behind. Wir haben eine besondere Verantwortung als Erben der Christianisierung und in Partnerschaften mit afrikanischen Christenräten, darauf zu schauen, was wird gefördert und was das für eine Politik ist. Aber es gibt ja auch andere Stimmen, zum Beispiel Siya Khumalo, der kürzlich in Berlin war; er ist Autor des Buches: You Have to be Gay to Know God. Es gibt viele Organisationen in dem rechtlich besser gestellten Südafrika, aber auch in anderen afrikanischen Ländern, die andere Stimmen voranbringen, die sich positiv und inklusiv zu LSBTIQ* äußern, die wichtiges Bildungsmaterial produzieren und andere Ansätze haben, die aber viel zu wenig gehört und gesehen werden. Ich sehe meine Rolle auch darin, diese zu unterstützen.
Ein anderer Aspekt, den ich sehr wichtig finde, ist die Auseinandersetzung mit der Anti-Gender-Bewegung. Ich würde behaupten, wir wissen immer noch zu wenig und wir sind uns zu wenig darüber im Klaren, wie transnational vernetzt, strategisch neu aufgestellt und modernisiert diese Bewegung inzwischen ist. Es sind die Evangelikalen in den USA, aber es ist auch die russisch-orthodoxe Kirche, die in vielen Ländern auf beängstigende Weise Einfluss nimmt. In Europa – Italien, Polen, Spanien und Deutschland – geben einflussreiche Personen, Parlamentarier und Institutionen dieser Bewegung viel Geld.
Akteure wie die „Agenda Europe“ behaupten, dass LSBTIQ* Familien zerstören. Ihre Strategie ist in Europa die gleiche wie in afrikanischen Ländern. Sie haben alle ein Ziel: Emanzipatorische Bewegungen zurückzudrehen und eine Ungleichwertigkeit von Menschen als legitim zu verbreiten. LSBTIQ*-Personen sind der erste Fokus, sie werden zum Südenbock gemacht, zuerst werden queere Menschen zum Ziel. Aber die Bewegung ist viel breiter, sie ist gegen Frauenrechte und es geht ihr ganz klar auch um weiße Vorherrschaft. Immer wieder wird argumentiert, man wolle zurück zur natürlichen Ordnung. Diese wird biblisch hergeleitet. Aber es gibt Dekonstruktionen des Biologismus und wichtige Ansätze, die diesen Mythos einer natürlichen Ordnung hinterfragen – damit habe ich im religiösen Bereich am meisten zu tun.
Mir wäre es wichtig, internationale Interessenvertretung mehr zu fördern. Das betrifft auch Länder, die möglicherweise dem Weg der Re-Kriminalisierung folgen. Selbst wenn sie keine neuen homophoben Gesetze erlassen, ist der Schaden schon angerichtet.
Als kirchliche Organisation haben wir als Brot für die Welt Zugang zu hochrangigen Kirchenvertretern. Da sollte mehr Druck ausgeübt werden und es sollte einen fortwährenden Dialog über universelle Menschenrechte geben, auch um homophobe Einstellungen zu dekonstruieren. Der Dialog ist schwierig, aber er ist nicht unmöglich. So kommen im südlichen Afrika seit einigen Jahren kirchliche und LSBTIQ*-Menschen freiwillig zum Austausch und zu Dialogen zusammen. Das ist der Weg in die Zukunft. Ich hoffe, wir können mehr für solche Dialoge sorgen.
Wichtig sind auch bestehende Netzwerke, beispielsweise: Rainbow Pilgrims of Faith, Global Interface Network (GIN-SSOGIE), ActAlliance Gender Programme.
Moderator*in Celia Parbey: Warum ist es wichtig, dass Entwicklungsgelder von Menschen an der Basis verwaltet werden?
Abdullah-wadud Mohammed: „Grundsätzlich ist die finanzielle Ausstattung der Staaten aus verschiedenen Gründen meist zu gering. Das betrifft beispielsweise Sozialprogramme des Ministeriums für Gender, Frauen und Kinder. Queere Menschen werden in diese Programme gar nicht einbezogen. Das System ist so strukturiert, dass wir marginalisiert werden. Die queere Community hat buchstäblich keine Möglichkeiten, Ressourcen für ihren Kampf um Menschenrechte zu erhalten, für Advocacy, Mobilisierung und Empowerment.
Zudem baut das staatliche Bildungssystem zusätzliche Hindernisse für queere Individuen auf. Die meisten queeren Jugendlichen brechen die Highschool ab, sie werden von den Schuldirektoren auf Verdacht hin herausgeworfen. Und oft wird in Internaten gezielt nach ihnen gesucht. Wie können diese Jugendliche Chancen erhalten? Da müssen wir Alternativen finden.
Wenn ausländische Hilfe nützlich sein soll, muss sie für uns leichter zugänglich sein. Mit ihr sollten nicht noch zusätzliche Schwierigkeiten verbunden sein – die haben wir schon aufgrund des vorherrschenden Systems. Deshalb ist die Dekolonisierung der ausländischen Hilfe so wichtig. Diese sollte nicht als Gabe gesehen werden, sondern als kollektives Zurückgeben. Die gesamte Weltwirtschaft ist vom Westen dominiert, das zeigt beispielsweise der geringe Wert unserer Währung in US-Dollar. Wie sollen queere Menschen in solch einer Ökonomie für sich selbst sorgen? Alles ist extrem schwierig, teuer und Korruption ist weit verbreitet. Crowdfunding ist schwierig, zu wenig und unberechenbar. Wenn es leichter für queere Minderheiten wäre, flexiblen Zugang zu ausländischer Hilfe zu erhalten, wäre das der beste Weg. Die finanzielle Hilfe mit 25-Prozent-Eigenanteil ist nicht nachhaltig. Es muss sich etwas ändern.
Ihr solltet mehr über die rechten Bewegungen wissen und mehr dagegen tun
Das Thema Veränderungen betrifft auch die rechten Bewegungen: Darüber solltet ihr mehr wissen – auch wir mussten uns das Wissen erst aneignen. Gegen die rechten Bewegungen muss mehr getan werden. Das ist eine Priorität für uns und sollte für euch als unsere Allianzpartner ebenfalls Priorität haben. Ihr könnt diese Gruppen leichter erreichen, da ihr im gleichen System agiert – wenngleich auf unterschiedlichen Seiten. Es sind Weiße, eure Nachbarn, sie sind Teil eurer Strukturen. Ihr hättet schon früher gegen ihren Aufstieg vorgehen können, selbst wenn ihr Agieren zunächst nicht eure direkte Umgebung betraf. Ihr könnt mehr gegen sie tun.
Was religiöse Gruppen anbetrifft, so sprechen sie in meinem Land nicht mit queeren Menschen. Ihr habt das Privileg, mit ihnen arbeiten zu können. Ein Pastor kann sich mit einem anderen Pastor austauschen, religiöse Menschen können miteinander kommunizieren. Sie sind eine Hinterlassenschaft des Kolonialismus.“
Celia Parbey: Wie hat die globale Anti-Gender-Bewegung die Gesetzgebung in Uganda beeinflusst?
Alex Martin Musiime: „Unsere Gegner sind sehr wohlhabend, zum Beispiel ist die Heritage Foundation in den USA eine Keimzelle der Homophobie und des Geldes dafür. Sie hat ihren Sitz in Washington, an den sogenannten „Frühstücksgebeten“ (Prayer breakfasts) dieser Lobbyorganisation nimmt der jeweilige US-Präsident teil. Das gleiche Event wurde in Uganda und Ghana durchgeführt, was zeigt, wie mächtig die Heritage Foundation ist. Was die staatliche Förderung anbetrifft, so stellen die USA nur 54 Mio. US-Dollar für Gender-Projekte in ganz Afrika zur Verfügung und die EU nur 10–15 Mio. US-Dollar. Das sind aber meistens keine Projekte für LSBTIQ*.
In Uganda fördert die EU ein Inklusionsprojekt, doch beim Projektstart war keine queere Organisation präsent. Trotz der blumigen Projektsprache zur Inklusion waren einige Vertreter der Zivilgesellschaft eingeladen, obwohl sie homophob sind. Unsere Gegner sagen klar, sie wollen Familienwerte nach Afrika zurückbringen. Und trotzdem verstecken sich Organisationen, die behaupten, unsere Allianzpartner zu sein. Die EU hat eine LGBTIQ-Equality-Strategie, aber sie bezieht nicht klar Stellung. Lasst uns über das bloße Formulieren von Strategien hinausgehen. Denn trotz dieser Strategie erhalten wir für unsere Petition gegen das Anti-Homosexuellengesetz in Uganda kaum Geld; auch dortige Botschaften haben alle möglichen Ausreden und finanzielle Unterstützung geht eher an zivilgesellschaftliche Organisationen mit sehr homophoben Leuten.
Follow the Money
Open Democracy hat etliche Studien über die Heritage Foundation und Family Watch International veröffentlicht; letztgenannte Organisation hat einen Beraterstatus gegenüber dem UN Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC). Sie arbeiten mit Kirchenvertretern und Politikern aus den Niederlanden zusammen. Das Geld zur Finanzierung kommt teilweise aus Russland. Es gibt keine Rechenschaftspflicht, wenn es auf diplomatischem Wege in die Taschen von Politiker*innen wandert. Weiße wie Sharon Slater von Family Watch International kommen und organisieren Trainings zu afrikanischen Werten. Zudem ist es ihr Ziel, homophobe Gesetzesentwürfe zu initiieren. Das ist ein großer Widerspruch, denn die lokalen Politiker und Kirchen behaupten, die Gesetze seien gegen den westlichen Imperialismus. Den fruchtbaren Boden dafür bereiten evangelikale Kirchen in Uganda. Dieses Jahr fand zum 2. Mal die African Inter-Parlamentary Conference on Family Values and Sovereignty in Uganda statt; Teilnehmende kamen aus Ghana, Kenia, Tansania und Malawi. Weiße heterosexuelle Evangelikale predigten und unterrichteten die Teilnehmenden – das ist ein weiterer Widerspruch, da diese Akteur*innen Afrikaner*innen afrikanische Werte vermitteln wollen.
Weiße Evangelikale wollen Afrikaner*innen afrikanische Werte vermitteln
Diese Evangelikalen sind sehr einflussreiche und finanzstarke Großunternehmen, sie beherrschen 79 Prozent der Medien in Uganda und verbreiten über kostenfreie Radiosender ihre Homophobie. Die Evangelikalen aus den USA haben in den letzten zehn Jahren 54 Mio. US Dollar in Anti-Homosexuellen-Gesetze in afrikanischen Ländern investiert, davon ging ein Großteil nach Uganda. Denn das ist ihr Testfeld. Involviert waren amerikanische und ugandische Politiker. Und dennoch wollen unsere Allianzpartner nicht mit uns gesehen werden und uns kein Geld geben. So behauptet die EU, die Situation sei zwar angespannt, aber das neue Anti-Homosexuellen-Gesetz sei nicht weit verbreitet. Wem glaubt die EU? Der ugandischen Regierung, die im Tandem mit den homophoben Gruppierungen agiert? Die EU sollte die rechten Gruppen zur Rechenschaft ziehen. USA, EU, Deutschland und andere EU-Länder sollten deren Geldflüsse nachverfolgen. Die Vergabe öffentlicher Gelder an sie sollte gestoppt werden. Verfolgt, wohin das Geld geht, dann seht ihr die Gefahren! Aus meiner Sicht werden die Geldflüsse dieser Unternehmen bislang nicht kritisch genug geprüft.
Um die Dekolonisierung und queere Befreiung fortzusetzen, ist es wichtig, die generelle Verbindung mit demokratischen Verhältnissen zu sehen. Es geht nicht nur um Anti-Homosexuellen-Politik, sondern um den Zustand und den Mangel an Demokratie in verschiedenen Ländern. In Uganda sind sie [homophobe Politiker und Religiöse] mit queeren Menschen fertig, jetzt gehen sie ganz offen gegen Frauen vor. Sie wollen ihnen vorschreiben, wie sie sich kleiden sollen; und die Strafbarkeit von Vergewaltigungen in der Ehe abschaffen. So wird das fortgeführt. Um so wichtiger sind starke demokratische Institutionen, eine starke und unabhängige Justiz, die gegen die Machtkonzentration eines Präsidenten und gegen Exzesse der Exekutive einschreiten. Dann würden auch die Menschenrechte eher eingehalten. Es ist Zeit zu handeln. Wichtig ist zudem, Synergien zu schaffen und Netzwerke zu stärken.
Wie gehen rechte Bewegungen in Ghana vor und was sind die daraus resultierenden Gefahren?
Abdullah-wadud Mohammed: „Sie haben die erwähnten ‚Frühstücksgebete‘ im Parlament organisiert. Die rechtsradikalen Bewegungen füttern die Parlamentarier mit gutem Essen, vielleicht auch mit braunen Umschlägen, denn das ist ein wichtiges Element in der ghanaischen Politik. Vor 2019 gab es in Ghana, konkret in Accra, queeres Leben, etwa in Gay Clubs. Damit wuchs ich auf. Doch das gibt es nicht mehr.
Die Religiösen und die Regierenden haben sich mit den Rechtsextremen vereint. Damit erhielt auch der Nationalismus einen Aufschwung, wonach Queerness angeblich nicht zu Ghana gehört, also nicht afrikanisch sei. Dementsprechend gibt es in Afrika nur eine Gender-Identität. So erodieren die Rechtsradikalen unsere Identität als Menschen. Dieses Vorgehen lässt sich kontinuierlich auf koloniale Identitätszuschreibungen und Beschränkungen unserer Identität zurückführen. Und aufgrund des Einflusses der Rechtsradikalen gibt es auch eine starke moralische und religiöse Begründung der Homophobie.
Zwar nimmt der christliche Nationalismus in Ghana nicht zu, aber die Zahl der Stimmen, die uns unterdrücken, werden mehr. Und der Staat baut Infrastrukturen auf, um fortwährend Menschen zu unterdrücken.
Der umstrittene Anti-Homosexuellen-Gesetzesentwurf, der schnell durch das Parlament gedrückt wurde und nun Probleme bereitet, hat die queere Zivilgesellschaft mobilisiert. Das ist der Silberstreif am Horizont. Ich bin sehr stolz auf die Community, wie sie auf diese Weise reagiert hat. Aber es lauern Gefahren, denn die Rechtsradialen wollen, dass der Gesetzesentwurf verabschiedet wird – ähnlich wie in Uganda und Nigeria. Darin investieren sie, sie haben viel Geld. Rechtsradikale Geber fragen nicht einmal nach Belegen, wenn sie Anti-Gay-Aktionen sponsern.
Doch wenn wir um finanzielle Unterstützung für eine Protestaktion bitten, sagt die deutsche Botschaft: ‚Wir glauben nicht, dass es nun der richtige Zeitpunkt dafür ist.‘ Mit einer solchen Begründung wurde ein Antrag nach über 1,5 Jahren und immer neuen Nachbesserungen abgelehnt. Wie soll ich dann noch dem Unterstützungsprozess vertrauen? Ich habe noch keine*n Aktivist*innen gesprochen, die mit der deutschen Förderung zufrieden waren. Demgegenüber können Basisorganisationen aus dem Globalen Süden bei schwedischen Organisationen direkt Gelder beantragen. Die Förderung ist flexibel und kann an Veränderungen angepasst werden, es wird kein Eigenanteil von 25 Prozent verlangt. Die skandinavischen Länder haben zu einem gewissen Maß ihr System dekolonisiert, nun warten wir auf die Deutschen. Ihr könnt etwas ändern. Wenn ihr anfangt, gegen den 25-Prozent-Eigenanteil vorzugehen, werde ich mich daran beteiligen.“
In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum gab es eine Kontroverse über den 25-Prozent-Eigenanteil, den auch Nichtregierungsorganisationen in Deutschland für Projekte mit queeren Partnerorganisationen im Globalen Süden aufbringen müssen. Zudem wurde über strukturelle Demokratie- und Menschenrechtsdefizite in Uganda, bilaterale Beziehungen mit diesem Staat im geo-strategischen Kontext, die Kriminalisierung von LSBTIQ*-(Basis)Organisationen und deren Folgen für deutsche staatliche Entwicklungszusammenarbeit diskutiert – und das mit Verweis auf das LSBTI-Inklusionskonzept der Bundesregierung. Konträre Vorstellungen über evidenzbasierte Ansätze kamen ebenfalls zur Sprache. Dabei ging es um das Strukturproblem, dass queere Basisorganisationen, die selbst am besten ihre Bedürfnisse und Interessen formulieren können, ohne Ressourcen und Förderung (Problematik der 25-Prozent-Eigenanteile) nicht die Vorgaben für evidenzbasierte Ansätze erfüllen können. Es wurde auf die Problematik einer vorgegebenen Matrix als Maßstab und des umgebenden Fördersystems sowie die fragliche Übertragbarkeit von Projektergebnissen eines Land auf ein ganz anderes hingewiesen. Der Verteidigung von Projektkriterien in der deutschen staatlichen EZ wurde mit dem Aufzeigen grundlegender Widersprüche des Status Quo in der Projektförderung widersprochen.
Blitzlichter aus anderen Regionen
Die pazifischen Inseln und ihr Kampf um Dekolonisierung
Tuisina Ymania Brown, Geschäftsführerin, Transgender Europe (TGEU)
Tuisina Ymania Brown, per Video zugeschaltet aus Samoa – einer zum Teil früheren deutschen Kolonie – beschrieb sehr poetisch, was ihr besonders am Herzen liegt: die Dekolonisierung der Identitäten, des Landes insgesamt und seiner Gesetze, die queere Liebe und Familiengründungen kriminalisieren.
„Als Bewohner*in des Pazifik trage ich die Stimmen unserer Ahn*innen in mir. Sie navigierten mit Weisheit, Mut und Hoffnung über diesen weiten Ozean – lange bevor der Kolonialismus seine Schatten auf unsere Ufer warf. Diese Ahn*innen lebten in Gesellschaften, die vielfältige Gender und Sexualitäten mit unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten umfassten. Die Fa´afafine in Samoa, die Leiti in Tonga, die Māhū in Hawaii, die Hijra in Indien, die Bakla auf den Philippinen, die Kathoey in Thailand und die Muxes in Mexiko wurden nicht nur akzeptiert, sondern verehrt. All das änderte der Kolonialismus. Für den Pazifik war das nicht nur die Invasion in unser Land, sondern auch in unsere Kultur, unseren Glauben und unsere Lebensweise. Der Kolonialismus wollte uns auch unserer Würde, Identität und Menschlichkeit berauben.“
Watch Video here (english)
Da Dekolonialisierung die Wiederaneignung des Rechts auf Liebe und eigener Ausdrucksformen bedeute, müssten einschüchternde Gesetze aus der britischen Kolonialzeit abgeschafft werden. Diese Relikte aus der Vergangenheit basierten auf Ignoranz und zielten darauf ab, die reiche Vielfalt an Sexualitäten und Gender auszulöschen. Missionare und Kolonialmächte zwangen den Pazifikgesellschaften ihre viktorianischen Ideale auf und kriminalisierten alle nicht heterosexuellen Gendervorstellungen. Tuisina Ymania Brown gab zu bedenken: „Die Folgen der Gesetze überdauerten die Kolonialmacht, die sie verfügten, denn Diskriminierung, Stigma und Gewalt gegen unsere LGBTIQ*-Communities bestehen fort.“ Die Fa´afafine in Samoa, die Leiti in Tonga, die Māhū in Hawaii mussten über Jahrhunderte die Marginalisierung ertragen. „Aber sie hielten den Angriffen stand, sie sind stolz und sichtbar“, unterstrich Tuisina Ymania Brown.
Im gesamten Pazifik wachsen Bewegungen, die das Rechtssystem und die koloniale Mentalität dekolonisieren und die zukunftsorientiert im Kampf für Gerechtigkeit sich die eigene Geschichte, Stimme und eigene Identitäten wieder aneignen wollen. Der Kampf um Werte wie Inklusion, Respekt und Würde, die schon die Vorfahren hochhielten, erinnert an diese und schafft auch neue Möglichkeiten, führte Tuisina Ymania Brown weiter aus: „Unser Kompass ist unsere Kultur, unsere Gemeinschaft, unser unerschütterlicher Glaube an das Recht, so zu leben wie wir sind. Die Resilienz unserer Leute, vor allem der LGBTIQ*-Communities legt Zeugnis ab von der Macht des Widerstands, des Überlebens und der Solidarität. (…) Wir brauchen aber Solidarität und Allianzpartner. … der Ozean verbindet uns alle. Es sind die gleichen Wellen, die an eure Küsten schlagen, sie tragen die Resilienz, die Hoffnung und die Stimmen der Menschen im Pazifik.“ Es ist Zeit zum Handeln, fordert Ymania Brown am Ende der Videobotschaft eindringlich auf.
Dekolonialität und LSBTIQ*-Menschenrechte in Lateinamerika
Gespräch mit Guillermo Ricalde, Menschenrechtsexperte, ILGA World
Moderator*in: Marlize André, Direktorin, The Marissa Foundation.
Marlize André: Du hast umfangreiche Erfahrungen mit Sonderverfahren des UN-Menschenrechtsrats (UN Special Procedures) und internationalen nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals (SDG). Wie können diese Mechanismen genutzt werden, um koloniale Machtdynamiken zu hinterfragen? Was sind die Herausforderungen, vor allem wenn es um indigene und marginalisierte Communities geht?
Guillermo Ricalde: „Die UN versucht, für Minderheiten erreichbar zu sein. Leider ist sie noch immer von kolonialen Dynamiken und Prozessen geprägt, diese erschweren sexuellen Minderheiten aus indigenen Communities den Zugang. Zu den Hindernisse zählt auch die geografische Lage, etwa Genf. Hinzu kommen die Abstraktionsebene der Prozesse und die Sprache, denn die UN arbeitet nur mit sechs Sprachen. Zudem mangelt es an Ressourcen, etwa für Reisen von Marginalisierten aus abgelegenen Gebieten und für Übersetzungen in indigene Sprachen. Angesichts dieser Herausforderungen versucht die UN, offener zu werden durch elektronische Kommunikation – seit der Corona-Pandemie durch Online-Partizipation. Diese kann auch von Organisationen und Communities genutzt werden, wenn sie keinen Beobachterstatus im UN-System haben und dort nicht registriert sind. Zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) können ihnen dabei helfen. Das war ein langer Prozess, wir mussten das System dazu bringen, diese Herausforderungen wahrzunehmen und sich für die Communities mehr zu öffnen.
Gut zugänglich sind die Sonderverfahren (Special Procedures), konkret die Berichterstattung bzw. das globale Monitoring des/der Sonderberichterstatter*in für die Rechte indigener Völker und des Unabhängigen Experten zu sexueller Orientierung und Genderidentität. Die Verantwortlichen tun ihr Bestes, um den Indigenen und Marginalisierten Gehör zu verschaffen, ihre schriftlichen Berichte zu erhalten und sich mit ihnen direkt oder online auszutauschen. Diese UN-Prozesse mit der Zivilgesellschaft sind das Wichtigste, wenn es kein Funding und keine Ressourcen gibt. Dazu ist eine ausgewogene Diskussion darüber notwendig, welchen Wert die Berichte der Indigenen und Marginalisierten haben. Denn sie teilen ihr Wissen und ihre Standpunkte ohne direkte Gegenleistung. Das wirkt extraktiv, zumal es weder Fördergelder noch Gesetzesänderungen und keine kurzfristigen Erfolge gibt. Daher geht es eher um Relevanz der eigenen Dokumentation und der damit verbundenen Sichtbarkeit in größeren nationalen und internationalen Menschenrechtskontexten und Mechanismen der Berichterstattung. Deshalb müssen wir uns fragen, wie wir die Art und Weise des Informationserwerbs dekolonisieren können, damit die Verfahren auch für die Advocacy-Arbeit der Aktivist*innen fruchtbar werden.
Marlize André: Was passiert, wenn indigene Perspektiven mit westlichen LGBTI-Rahmen in Konflikt geraten?
Guillermo Ricalde: Wichtig ist Agency [Handlungsmacht], dazu bieten wir den indigenen Minderheiten Informationen, die allerdings aufgrund der UN-Strukturen und ‑Arbeitsweisen limitiert sind. Dieses Spannungsverhältnis ist mir bewusst. So merken zum Beispiel Indigene der Two Spirits, Muxes oder Hijras an, dass die LGBTIQ*-Akronyme der UN sie nicht repräsentieren. Sie betrachten die Abkürzungen als westliches Konzept. Wir erörtern dann, wie die UN zu den Akronymen kam, die unsere Communities repräsentieren sollen. Wir bieten in der UN einen Raum für den Austausch, den die Aktivist*innen nutzen können, um uns zu sagen, wie sie repräsentiert werden wollen. Das UN-System hat durchaus ein Bewusstsein für die sehr große Bandbreite an Communities, beispielsweise religiös ausgerichtete und auf Ahnen*innen bezogene queere Identitäten. UN-Berichte nennen diese Identitäten mit ihren eigenen Namen, obwohl die Berichte offiziell mit Akronymen betitelt werden.
UN-Berichte legen Wert auf Ausgewogenheit, dennoch verursachen sie Spannungen. Das betrifft zum Beispiel den Bericht des Independent Expert on SOGIE über die Folgen des Kolonialismus und damit verbundener religiöser Begrifflichkeiten zur Sexualität, die in kolonisierte Gesellschaften implementiert und in kriminalisierende Gesetzgebungen übernommen wurden. So wurden die Muxes in Mexiko vorkolonial geachtet wegen ihrer Rolle in Zeremonien und als „care givers“ – das ist heute noch in einigen Städten so. Aber in anderen Regionen wird ihnen die Teilnahme an religiösen Zeremonien verboten. Das ist auch eine Folge des Kolonialismus und der Anti-Rights-Movement sowie der damit verbundenen Unternehmen und deren Narrative, was ebenfalls ein Erbe des Kolonialismus ist.
Marlize André: Wie schätzt Du die Rolle der Religion ein?
Guillermo Ricalde: Die kolonial geprägte Macht der Religion betrifft auch Länder wie Paraguay, dortige Gesetze, den Bildungssektor sowie das Vorgehen gegen sexuelle und reproduktive Rechte. Die Narrative zu Familienwerten sind aber anders als in Afrika. Manchmal instrumentalisieren sie die UN-Menschenrechtssprache, um koloniale Ideen zu implementieren und um die Repräsentation von LGBTIQ*-Communities und Frauenrechte zu unterbinden. Kürzlich wurde in Paraguay ein Gesetzesentwurf diskutiert, der die Repräsentation von LGBTIQ* im Bildungskontext nicht erlaubt. Das ist aber ein Verstoß gegen Menschenrechtsstandards. Auch Argentinien kehrt unter einer rechtsradikalen Regierung zu kolonialen Erzählungen zurück.
Zudem wird die Kultur in kulturrelativistischen Anti-Rights-Aussagen und rechtsradikalen Statements instrumentalisiert, um zu zeigen, dass LGBTIQ*-Menschen nicht die eigene Kultur repräsentieren. Anti-Rights-Gruppen sind auch in der UN präsent, sie haben viel Geld.
Marlize André: Welche Ähnlichkeiten haben Anti-Gender-Bewegungen in unterschiedlichen Ländern und welche Gegenstrategien haben sich in der indigenen und queeren Menschenrechtsarbeit bewährt?
Guillermo Ricalde: Wir haben es mit den gleichen Gegnern zu tun, das verbindet uns in gewisser Weise. Ich sehe Ähnlichkeiten hinsichtlich der Themen und Unterschiede, wenn ich die Bewegungen in verschiedenen Kontinenten vergleiche. So geht es in Lateinamerika, anders als in Afrika, nicht um (De)Kriminalisierung, sondern um Gesetze zu Trans-Inklusion, rechtliche Anerkennung, Bildung, sexuelle und reproduktive Rechte von Frauen.
Angesichts der erstarkten rechten Bewegungen brauchen wir gestärkte Verbindungen zwischen verschiedenen Initiativen, also intersektionale Zusammenarbeit mit feministischen Frauen- und Klimabewegungen sowie indigenen Communities, die unsere Allianzpartner*innen sind. Das funktioniert in der internationalen Advocacy-Arbeit recht gut. Wenn zum Beispiel feministische Frauenorganisationen die direkte Kooperation ablehnen, weil sie um ihre Errungenschaften fürchten und im Fall Uganda eine Zusammenarbeit aktuell als zu riskant einschätzen, kann es aber möglicherweise auf regionaler oder internationaler Ebene Verbindungen geben.
Marlize André: Welche Rolle kann Deutschland mit Blick auf die Dekolonisierung der UN spielen?
Guillermo Ricalde: Direktes Funding ist wichtig, dabei sollten die Communities ihre Agency [Handlungsmacht] bei Programmen und Projekten behalten und nicht durch eine vorgegebene Agenda bei Antragstellungen bevormundet werden, auch nicht in der Advocacy-Arbeit. Deutschland sollte sich auf die Übergabe der Agency an die Community-Gruppen ausrichten.
Dr. Rita Schäfer, freiberufliche Afrikawissenschaftlerin
Konferenzbericht / Article (German only)
Einladung und Programm / Download Flyer/Download Einladung
Fotos der Konferenz
Grußwort Postkoloniale und dekoloniale Strategien in der Menschenrechtsarbeit, Axel Hochrein
Keynote Decolonize foreign policy, Stella Nyanzi
Keynote Dekolonialisierung und die Menschenrechte, Max Lucks
Video message The Pacific Islands and the Fight for Decolonization, Ymania Brown
Konferenz der Hirschfeld-Eddy-Stiftung im Rahmen des Projekts „Kulturen und Kolonialismus — Der Kampf um die Menschenrechte von LSBTIQ* im Licht der Debatte um Dekolonisierung“.