Von Ende April bis noch in den Sommer hinein erschütterte ein Generalstreik gefolgt von einer heftigen Welle von Protesten Kolumbien. Ausgangspunkt war eine geplante Steuerreform, die eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beinhaltet hätte. Die hätte vor allem die ärmsten Teile der Bevölkerung belastet, die ohnehin schon um das tägliche Überleben kämpfen müssen und durch die Pandemie und ihre Auflagen noch stärker unter Druck geraten waren. So waren es vor allem diejenigen, die am wenigsten Unterstützung seitens der Regierung erfahren, die die Proteste anführten: schwarze Jugendliche aus den marginalisierten Vierteln der großen Städte, schwarze Frauen und LSBTI.
Eine Innenansicht und eine Einordnung der Ereignisse lieferten die schwarzen LSBTI-Aktivistinnen Mauri Balanta Jaramillo und Debaye Mornan in einem Onlinetalk mit dem Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbands (LSVD), Klaus Jetz, am 21.10.2021. Beide arbeiten für den Verein Casa Cultural El Chontaduro in Cali, im Südwesten Kolumbiens – Balanta Jaramillo als Kommunikations- und Informationsmanagerin, Mornan als Sozialarbeiterin – und sind Teil einer Forschungsgruppe von Aktivist*innen zum Thema Intersektionalität, die mit dem Zentrum für Studien der Afrodiaspora an der Icesi Universität Cali zusammenarbeitet. Dabei meint Intersektionalität Mehrfachdiskriminierung, also etwa das Zusammenspiel von Rassismus, Sexismus und Homophobie. Fotos und ein kurzer, von Balanta Jaramillo selbstgedrehter Film über die Proteste ergänzten ihre Einschätzungen. Rund 30 Menschen verfolgten das Gespräch und meldeten sich mit Fragen zu Wort.
Laut Mornan war die geplante Mehrwertsteuererhöhung nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Kolumbien ist eines der (sozial) ungleichesten Länder der Welt“, berichtet sie. „Es herrscht große Armut, als Folge der Bürgerkriege der letzten Jahrzehnte und wegen der Binnenvertreibung.“ Einer aktuellen Studie zufolge kann sich knapp ein Drittel der Bevölkerung nur eine Mahlzeit pro Tag leisten. Vergangenheit und Gegenwart sind geprägt durch Gewalt, viele Verschwundene und Morde. Zentrale Forderungen des Protestes waren demnach Zugang zu ausreichend Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung, Sicherheit, Garantien für demokratische Teilhabe und die Einhaltung der Menschenrechte, gerade für die ausgeschlossenen Kollektive.
„Cali litt immer stark unter den Folgen des Krieges, dort gibt es viele Vertriebene und geflüchtete Menschen“, erklärt Mornan. Speziell im Osten der Stadt, wo sich die schwarze und indigene Bevölkerung konzentriert, herrscht große Armut. Mit 30 Prozent ist Cali nach Salvador de Bahia die lateinamerikanische Stadt mit dem höchsten Anteil an schwarzer Bevölkerung. Viele Menschen aus dem Osten Calis arbeiten als Hausangestellte oder überhaupt im informellen Sektor. Auch das Kulturzentrum El Chontaduro befindet sich hier.
Cali war das Epizentrum des Protestes. Dabei war sein Charakter anfänglich sehr vielfältig und spontan, wie Balanta Jaramillo sich erinnert. Mobilisiert hatten unter anderen die schwarzen Communitys, LSBTI, Bäuer*innen, Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen. Schwarze, verarmte Jugendliche und LSBTI standen in der ersten Reihe, um ihre Stimme zu erheben. „Es sind dieselben Menschen, die wir in den Gefängnissen finden, die am stärksten überwacht werden und die am häufigsten sterben“, mahnt Mornan. Die Maßnahmen des Staats und insbesondere der Polizei glichen immer noch denen im Bürgerkrieg. Die junge Sozialarbeiterin verweist auf Zahlen der NGO Temblores: Diese zählte im Kontext der Proteste 44 Morde, mehr als 4.600 Fälle von Polizeigewalt, über 100 willkürliche Verhaftungen und rund 30 sexuelle Angriffe.
Besonders hart trafen die Repressalien während der Proteste – wie übrigens auch sonst — Menschen, die mehrfach diskriminiert werden. Die Gewalt gehe jedoch auch von der Gesellschaft aus, betont Balanta Jaramillo. Denn diese sei homophob und von binärem Denken geprägt. Selbst innerhalb der Widerstandsbewegung fehlte es vielfach an Achtsamkeit und der Bereitschaft, eine intersektionale Sichtweise in ihren politischen Agenden zu berücksichtigen. Infolge zunehmender Spannungen schuf sich die schwarze Community Calis einen eigenen Raum, der es ihnen erlaubte, über ihre spezifischen Erfahrungen zu sprechen. Hier waren es wiederum Frauen und LSBTI, die sich behaupten mussten, um ihre Standpunkte im Forderungskatalog des Generalstreiks zu platzieren, denn die Anführer*innen der schwarzen Communities sind mehrheitlich Männer.
„Es ist unglaublich schwer, wenn nicht gar unmöglich, angehört zu werden oder zu erreichen, dass unsere Lebensrealitäten wahrgenommen werden“, meint Balanta Jaramillo. Auch auf politischer Ebene: Zwar hätten sie bezüglich der Verfassung bereits große Erfolge zu verbuchen, innerhalb der Institutionen sähen sie jedoch noch enorme Hindernisse für die Umsetzung der Gesetze. Dennoch feiert die Aktivistin die aktuelle Situation als „historischen Moment, der zu strukturellen Veränderungen führen wird.“
Mornan sieht den Generalstreik und die folgenden Blockaden und Demonstrationen als Teil der Mobilisierungen der letzten Jahre in Nord- und Südamerika. Sie zieht Parallelen zu Chile, Brasilien und den USA. Besonders die Black Lives Matter-Bewegung sei eine wichtige Inspirationsquelle für die schwarzen Menschen in Kolumbien. „Es ist wichtig, noch mal zu unterstreichen, dass Gewalt und Morde oftmals rassistisch motiviert sind“, sagt sie.
Auch wenn die Proteste zunächst vorbei sind, die Forderungen bleiben. „Wir möchten natürlich nicht, dass unsere Anstrengungen umsonst waren — bei den Protesten sind ja auch Menschen gestorben“, erklärt Balanta Jaramillo. Hoffnungen setzt sie in die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr. Erstmals in der Geschichte des Landes tritt dabei mit Francia Márquez auch eine schwarze Präsidentschaftskandidatin an. Auch sie ist gesellschaftlich mehrfach benachteiligt, denn sie ist zudem eine Frau und kommt vom Land. Als Umweltaktivistin hat sie gegen Bergbau in illegalen Minen gekämpft und den Goldmann-Umweltpreis gewonnen. „Sie setzt sich für die Menschen, die Umwelt und die Gemeinschaft ein. Sie verkörpert unseren Kampf, all das, worum es bei dem Streik ging“, resümiert Balanta Jaramillo.
Mornan schlägt einen Bogen zurück zu ihrer Arbeit in der Casa Cultural El Chontaduro. Dort versuchen sie Räume zu schaffen, in denen sie sicher sind und politische Bildungsarbeit machen können, denken aber auch darüber nach, wie ihr Land zukünftig aussehen müsste. Dabei sei es wichtig, nicht nur auf lokaler Ebene zu verharren. Auch Francia Márquez setze sich dafür ein, dass vorher marginalisierte Menschen mehr Rechte und politischen Raum erhielten. „Wir sind immer von derselben Elite regiert worden. Sie hat sich den ganzen Staat angeeignet, sie war gewalttätig und hat den Tod vieler Menschen verursacht. Wir glauben, dass es nötig ist, Räume für uns zu öffnen, um Projekte zu schaffen, die die Zukunft in den Mittelpunkt rücken. Wir wollen unterstreichen, dass wir dieses Land wirklich verändern müssen.“
Inge Wenzl
Weiterführende Links:
- Webseite des Kulturzentrums Casa Cultural „El Chontaduro“
- Website des Zentrum für Studien der Afrodiaspora an der Icesi Universität Cali
- Somos identidad organization (“We are identity”)
- Alle Blog-Artikel zum Projekt unter dem Tag MRV-2021
Der Online-Talk fand im Rahmen des Projekts der Hirschfeld-Eddy-Stiftung “LGBTIQ-Menschenrechtsverteidiger*innen” statt. Alle Blog-Artikel zum Projekt unter dem Tag MRV-2021