Kategorien
Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Wie sich Corona auf LSBTI-Aktivismus in Osteuropa und im Globalen Süden auswirkt

Berichte unserer Partnerorganisationen aus Russland, Tunesien, Uganda, Südafrika, Nicaragua und dem Westbalkan

Wie ist die Situation von LSBTI und wie beeinflusst Covid19 die Arbeit? Wie meistern sie die Situation? Welche Bedarfe und Bedürfnisse gibt es?

Corona Virus

Wir wollten Informationen aus erster Hand und wissen, wie sich die Situation in den Städten und Ländern unserer Partner*innen darstellt. Wie ist die Situation von LSBTI und wie beeinflusst Covid19 ihre Arbeit? Wie meistern sie die Situation, um mit ihren Projekten fortzufahren und gute Ergebnisse zu erzielen? Und schließlich fragten wir nach Bedarfen und Bedürfnissen, die jetzt befriedigt werden müssen, damit die Arbeit weitergehen kann.

Dramatische soziale und wirtschaftliche Situation in Russland

Russland

Die Kolleginnen vom Internationalen LGBT Filmfestival St. Petersburg berichten uns von den Vorbereitungen des Moskauer Festival, das ebenfalls von ihnen organisiert und ausgerichtet wird. Moskau ist seit dem 3. April abgeriegelt, die Menschen sollen zu Hause bleiben. Nur für Angehörige systemrelevanter Berufe gelten Ausnahmen. Auf der Straße patrouillieren Polizisten. Ganz anders in St. Petersburg. Hier gelte ein Ausgehverbot nur für Menschen über 65. Russlandweit gelte im Arbeitsleben eine „Auszeit“, ohne dass der Staat Hilfen für Firmen vorsehe. So kürzten die Arbeitgeber Löhne und kündigten vielen Angestellten. Die wirtschaftliche und soziale Situation sei im ganzen Land dramatisch. Viele kleinere und mittlere Unternehmen gingen Pleite, und die Menschen seien verzweifelt. Im medizinischen Bereich fehle es an allem: Masken, Tests, guter Organisation und auch an Betten, denn die Zahl der Krankenhäuser im Land sei in den letzten 20 Jahren halbiert worden. Die Situation der LSBTI-Community habe sich verschlechtert, weil viele Anlaufstellen geschlossen wurden. Zwar finden online-Beratungen statt, doch die Treffpunkte seien zu. Zudem führten die Ausgangsverbote und Selbstisolation zu mehr (häuslicher) Gewalt. Vor allem für TransPersonen sei es in staatlichen Wohnheimen oder gemieteten Gemeinschaftswohnräumen zunehmend gefährlich.

Uganda: LSBTI als Sündenböcke

Frank Mugisha vom Sexual Minorities Uganda SMUG berichtet, dass seit der Pandemie Homophobie und Trans*Feindlichkeit im LSBTI-feindlichen Uganda noch zugenommen haben, zumal manche Vertreter*innen aus Politik und Religion LSBTI für den Ausbruch der Pandemie verantwortlich machten. In Quarantäne seien viele LSBTI Opfer von Gewalt geworden. Gerade in den Familien habe es Fälle von häuslicher Gewalt gegeben. 

Frank Mugisha, Uganda

Die Isolierung traumatisiere viele Jugendliche und leiste mentalen Gesundheitsproblemen Vorschub. Viele LSBTI haben kein geregeltes Einkommen und können nicht zu Hause bleiben. SMUG unterstütze sie mit Nahrungsmitteln oder Hygieneartikeln und biete auch Schlafplätze für obdachlose LSBTI an. Man fordere die LSBTI-Community auf, sich an die Richtlinien der WHO und des Gesundheitsministerium zu halten, zu Hause zu bleiben und die Hygieneregeln zu beachten.

Nicaragua ignoriert die Empfehlungen der WHO zur Eindämmung von Corona

In Nicaragua kann von Richtlinien des Gesundheitsministeriums keine Rede sein. Unsere Partnerorganisation Red de Desarrollo Sostenible berichtet, die Regierung halte sich nicht an die Empfehlungen der WHO, um die Pandemie einzudämmen. Im Gegenteil: Weder Schulen noch Grenzen wurden geschlossen, über 80 Veranstaltungen wurden in dem kleinen mittelamerikanischen Land in der Karwoche und an Ostern durchgeführt. Die Angestellten des öffentlichen Sektors wurden zehn Tage in Urlaub geschickt, der Tourismus wurde angekurbelt, Menschenansammlungen allenthalben. Der Hauptgrund: Man scheue die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Lockdown. 

Projektbesuch Nicaragua, Klaus Jetz, 2014

Zudem leugne die Regierung die Ausbreitung der Epidemie und spreche von einigen wenigen Fällen von Infizierten, die aus dem Ausland eingereist seien. Die Gesundheitsbehörden wüssten nicht einmal eine Antwort auf die ständigen Anfragen der Medien nach der Anzahl der Beatmungsgeräte im Land. 

Den Job der Regierung haben oppositionelle Organisationen übernommen, die ein Observatorio Ciudadano Covid-19 (OCC) geschaffen hätten. Diese bürgerschaftliche Beobachtungsstelle berichtete Ende März von 80 Fällen von Infizierten in elf der 17 Departements, während das Gesundheitsministerium von nur fünf Fällen in den drei Departements Chinandega, Estelí und Managua sprach. 

Staatliche Einschüchterung, wenn die Bevölkerung sich schützen will

Die große Mehrheit der LSBTI-Community habe kaum Zugang zu den Leistungen des Gesundheitssystems, verschärft werde ihre prekäre Situation durch den Verlust von Jobs, meist im informellen Sektor, Obdachlosigkeit, Gewalt, Stigmatisierung und Hasspredigten religiöser Eiferer.

In dieser Situation glänze die Präsidentenfamilie durch Abwesenheit. Weder Präsident Daniel Ortega, noch seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo hielten es bislang für nötig, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und ein Statement zur Pandemie, den Gefahren und der Situation im Land abzugeben. Der Unmut der Bevölkerung wachse, auch weil die Herrscherfamilie Ortega-Murillo 16 Enkel*innen aus den Schulen genommen und zugleich deren Schließung verboten habe.

Ausnahmezustand auch auf dem Westbalkan

Die LSBTI-Community der Region sei auf vielerlei Art und Weise betroffen. Aus Gesprächen mit den Mitgliedsorganisationen wisse man, dass besonders vulnerable LSBTI auch unverhältnismäßig stark wegen der Pandemie gefährdet sind: Obdachlose, Behinderte, Sexarbeiter*innen, Menschen, die sich in Transition befinden und Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen, Menschen, die mit HIV/AIDS, Diabetes, Krebs und anderen Gesundheitsproblemen leben, Menschen, die unter psycho-emotionalem Stress und Traumata leiden, ältere Menschen, LSBTI-Geflüchtete. Aber auch Freiberufler*innen, Menschen mit Dienstleistungs- und Beraterverträgen, seien betroffen, weil ihnen die Lebensgrundlage entzogen wurde und sie keinerlei Unterstützung vom Staat erhalten.

Hürden beim Zugang zur Gesundheitsversorgung

Sie alle hätten mit Hindernissen beim Zugang zu Gesundheitsdiensten zu rechnen, was vor allem auf Diskriminierung und Stigmatisierung zurückzuführen sei. Zudem bestehe die Gefahr, dass ihre psychische Gesundheit aufgrund der langen Isolation und des fehlenden Kontakts mit Verwandten und anderen geliebten Menschen Schaden nehme. Die wirtschaftlichen Härten führten zu Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit bei vielen LSBTI in der Region. Hinzu kämen die Fälle von häuslicher Gewalt vor allem bei jungen LSBTI

So hätten sich viele der ERA-Mitgliedsorganisationen der Situation angepasst. Sie böten Dienste und Hilfe online an, stellten Nahrung und Unterkunft für Bedürftige bereit und setzten sich gegenüber Regierungsbehörden dafür ein, dass auch LSBTI-Personen als besonders vulnerable Gruppe anerkannt und auch für sie finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Mit Gebern und Sponsoren sei man im Gespräch, um notfalls vorhandene Mittel umzuwidmen oder Notfallfinanzierungen bereitzustellen, mit denen auf den zunehmenden humanitären Bedarf reagiert werden kann.

Lockdown in Kapstadt — IAM sucht nach digitalen Alternativen

Trost zu spenden versuchen Ecclesia de Lange und ihre Kolleg*innen von Inclusive and Affirmative Ministries IAM in Kapstadt, Südafrika. „Wir sind in der dritten Woche des Lockdown und dürfen nur zum Arzt oder in die Apotheke und in den nächstgelegenen Laden, um uns mit dem Notwendigsten zu versorgen“, schreibt Ecclesia. Zurzeit würden Umfragen durchgeführt, um die Bedarfe der LSBTI-Community im Land zu eruieren. Und zudem warte man auf Neuigkeiten der regionalen Partner aus den Nachbarländern. 

Kapstadt

IAM beeinflusst religiöse Communities und wirbt dafür, dass diese sich für LSBTI und deren Belange öffnen. Denn dies sei der Schlüssel zum Abbau von LSBTI-Feindlichkeit in Afrika. Die Krise öffne uns hoffentlich auch die Augen für andere wesentliche Themen: „Es liegt an jedem von uns, gerade jetzt darüber nachzudenken, was COVID-19 bedeutet; für uns selbst, unsere Arbeit, unsere Welt und unsere Beziehungen untereinander und zu Mutter Erde… Wir glauben, dass aus dieser Notlage auch eine bessere, gerechtere, integrativere und nachhaltigere Welt entstehen kann, eine Welt, in der unser Planet respektiert und unser Engagement zum Schutz unserer natürlichen Umwelt stärker denn je sein wird.“

Auch die IAM-Mitarbeitenden arbeiten im Home Office, denn die Gesundheit gehe einfach vor. Sie experimentieren mit online-Plattformen, um zu lernen, was am besten funktioniert und wie die Aktivitäten fortgesetzt werden können. Face-to-Face meetings, Workshops und Kongresse, die bis Mai stattfinden sollten, wurden abgesagt oder verschoben. Wöchentlich treffe man sich online im Teammeeting. IAM-Förderer und Sponsoren hätten wertvolle Unterstützung geleistet, durch die Finanzierung von Lizenzen, neuen Computern und Ratschlägen. Die größte Herausforderung, so Ecclesia, sei es, innovative Überlegungen anzustellen und zu sehen, welche Alternativen es zu den bisherigen Aktivitäten gebe und wie sie stattfinden können.

Alternativen zur persönlichen Begegnung gesucht

Auch die Kolleg*innen in Managua haben beschlossen, von zu Hause aus zu arbeiten. „Ich bin heute ins Büro gekommen, weil in meinem Viertel zwei Wochen lang täglich das Wasser abgestellt wurde. Unerträglich. Im Büro funktioniert die Wasserversorgung weiterhin. Jetzt im Sommer ist es sehr trocken, sehr heiß, windig und staubig. Dadurch gibt es mehr Atemwegserkrankungen, die mit Beginn der Regenfälle im Mai nochmal zunehmen werden“, schreibt José Ignacio. 

Für Frank Mugisha von Sexual Minorities Uganda SMUG ist die Arbeit zu einem Kraftakt geworden, vor allem weil Abstand gehalten werden muss, doch die Arbeit erfordere meist persönliche Begegnungen. Der Lockdown bringe es mit sich, dass Fahrten von einem Ort zum anderen fast unmöglich geworden sind. Die Dokumentation von Hassgewalt, die Arbeit mit Opfern, die Besuche von LSBTI im Gefängnis bei Einschränkungen der Besucherzahlen und Besuchszeiten, all das sei kaum mehr zu leisten. SMUG arbeite nunmehr mit den Mitgliedern vor Ort, die sich lokal um Fälle von Gewalt und Opfer kümmern. Zudem setze man verstärkt auf Mobiltelefone, Whatsapp und andere digitale Kanäle. Doch das alles koste viel Geld; man benötige Unterstützung für die technische Aufrüstung, für Transportmittel, psychologische Beratung und vor allem auch für Sicherheitsmaßnahmen gegen Übergriffe und Gewalt.

Die Fälle atypischer Lungenentzündungen seien sprunghaft angestiegen, mehr als tausend Fälle wurden gemeldet, während es normalerweise nicht mehr als 500 solcher Fälle im Jahr gebe. Die Strategie für die Durchführung ihrer Aktivitäten müsse also sorgfältig überprüft werden. Was ist überhaupt noch machbar, was nicht? In Nicaragua habe man noch keine Vorstellung vom Ausmaß der Krise. Fachleute befürchten, so José Ignacio, dass wegen der bald einsetzenden Regenfälle die Zahl der Infizierten bis Ende Juni, Anfang Juli springhaft ansteigen werden. 

Sichtbarkeit aufrechterhalten — aber wie?

Amarildo von ERA in Belgrad geht davon aus, dass Gay Pride-Veranstaltungen und andere Treffen, die für die Sichtbarkeit so immens wichtig sind, in diesem Jahr im Westbalkan nicht stattfinden oder auf das nächste Jahr verschoben werden. Die Strategien für die Lobbyarbeit müssten überprüft, neue Modelle für die Kommunikation und Sensibilisierungsmaßnahmen gefunden werden. 

Amarildo, Slowenien

Aktivist*innen in Slowenien, Serbien und anderen Ländern blicken besorgt nach Ungarn, so Amarildo, und fürchten die negativen Auswirkungen der Krise auf die Menschenrechts- und Minderheitenpolitik rechter und nationalistischer Regierungen. Wichtige Gesetzesvorhaben oder Aktionspläne würden auf Eis gelegt, staatliche Institutionen würden mit Hinweis auf fehlende Vorgaben und Richtlinien keine weiteren politischen Maßnahmen für LSBTI umsetzen, so dass für die LSBTI-Organisationen in der Region wertvolle Kontakte abreißen und die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen zum Erliegen komme.

Die Organisator*innen des Moskauer LGBTI-Filmfestivals von Side-by-Side in St. Petersburg haben als erste Reaktion auf die Corona-Pandemie das Event von Ende April auf Anfang Juli verschoben. Das heißt, so Gulya, dass sie ihre Arbeit umorganisieren mussten. Die Vereinbarungen mit den lokalen Moskauer Partnern wurden auf Standby-Modus gestellt. Side-by-Side befürchtet aber auch, dass lokale Unternehmen wie Cafés, Geschäfte, Veranstaltungslokale etc. und auch Nichtregierungsorganisationen nach Abflauen der momentanen Krise nicht mehr in der Lage sein werden, andere zu unterstützen. Mit den Vorbereitungen für das St. Petersburger Filmfestival im November haben die Kolleg*innen bereits jetzt begonnen, denn die Aktivitäten in Moskau beginnen bestenfalls wieder im Juni, so Gulya, und dann müsste für St. Petersburg das Gros der Vorbereitungen abgeschlossen sein. 

Sinkende Spendenbereitschaft erwartet

Ganz runtergefahren habe man die juristischen Aktivitäten wegen der strafrechtlich relevanten Angriffe auf Side-by-Side in den Jahren 2018 und 2019, so Gulya, denn die Gerichte seien im Moment geschlossen und auch die Behörden nähmen ihre „Auszeit“. Was die finanzielle Situation der Organisation angeht, sind die Kolleg*innen sehr pessimistisch. „Wir sehen jetzt schon, dass für uns schwere Zeiten kommen, da ja nach der Krise noch lange Zeit Löcher in vielen Bereichen bestehen, die nicht schnell geflickt werden können, weshalb die Bereitschaft zu spenden immer kleiner werden wird“, so Gulya.

Side-by-Side setzt zurzeit auf online-Aktivitäten und Kommunikation. Man bereits gerade zwei Webinare für zwei Freiwilligenteams in St. Petersburg und Moskau mit je 50 Teilnehmenden vor. „Wir haben Mitte März unsere neue Webseite eröffnet. So wollen wir noch mehr Menschen erreichen. Wir posten über soziale Medien zu LSBTI-relevanten Themen aus den Bereichen Film, Kunst, Aktivismus und Politik. So versuchen wir, unsere Community durch Internetnetzwerke positiv zu beeinflussen und zu stärken. Wichtig ist uns, eine positive Botschaft zu vermitteln und uns gegenseitig moralisch zu unterstützen“, schreibt Gulya.

Die Kolleg*innen in Russland suchen zurzeit verstärkt nach Sponsoren, zumal eine der Geberorganisationen aus dem Ausland von den russischen Behörden als unerwünscht eingestuft wurde. Die Kolleg*innen prüfen Fundraising-Kampagnen und suchen nach alternativen Möglichkeiten. 

Geberorganisationen sollten flexibel reagieren

ERA aus Belgrad ruft Geberorganisationen dazu auf, sich mit LSBTI-Organisatonen in Verbindung zu setzen, um deren Bedarfe zu ermitteln. Bevor Unterstützung angeboten werde, müsse zunächst Klarheit über Themen, Herausforderungen und Bedürfnisse der Organisationen vor Ort herrschen. Zudem sollten Mittel und Projektmaßnahmen unbürokratisch umgeleitet bzw. verlegt werden können. ERA appelliert an die Bereitschaft der Geber zur Flexibilität bei der Neuzuweisung von Mitteln und Umwandlung bestehender Zuschüsse. Antragsstellungsverfahren und Berichtswesen sollten vereinfacht werden, um sicherzustellen, dass Organisationen vor allem von Corona Betroffene und in Not geratene Gruppen unterstützen können.

Spendenaufruf aus Tunesien

Aus Tunesien erreichte uns ein dringender Spendenaufruf. Die Organisation DAMJ, die tunesische Vereinigung für Gerechtigkeit und Gleichheit hat sich zum Ziel gesetzt, die Menschenrechte von LSBTI in Tunesien zu verteidigen und zu stärken. Die Pandemie habe viele LSBTI in Tunesien aus dem In- und Ausland in eine sehr prekäre wirtschaftliche und soziale Situation gebracht. Spendengelder werden dringend benötigt, um für diese Menschen Zugang zu Nahrungsmitteln, medizinischen Leistungen und zu Wohnraum sicherzustellen. Zurzeit betreue man 92 LSBTI, darunter mittellose Geflüchtete, denen es an Essen und Medikamenten fehle, obdachlose Trans*Personen und aus der Haft entlassene, vom Präsidenten begnadigte Schwule, die weder über wirtschaftliche Ressourcen, noch ein Dach über dem Kopf verfügen.

Wirtschaftliche Probleme, fehlendes Problembewusstsein und fake news

Ali Bousslemi, Direktor unserer Partnerorganisation Mawjoudin in Tunis, die u.a. seit 2018 das Queer Filmfestival ausrichtet, meint, Tunesien leide doppelt unter der Pandemie, wie viele andere Länder, die systembedingt wirtschaftliche Probleme und fehlendes Problembewusstsein in Bezug auf die Krise hätten. Den Nachrichten zufolge sei die Regierung wegen fehlender finanzieller Mittel nicht in der Lage, ausreichend Tests durchzuführen. Die Krankenhäuser seien für eine solche Pandemie nicht ausgestattet, die Gefahr eines nGesundheitsotstandes sei groß wegen der sehr begrenzten Aufnahmekapazitäten.

Da infizierte Menschen stigmatisiert würden, meldeten sich viele nicht beim Gesundheitsministerium, wenn sie krank werden. Der Lockdown sei nur für zehn Tage erfolgreich gewesen, danach seien viele Menschen zum Einkaufen raus gegangen, ohne die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen. Zudem, so Ali, würden die Tunesier*innen, wie die Menschen in vielen anderen Ländern auch, im Dunkeln gelassen über das wahre Ausmaß und die Gefahr der Pandemie, denn in den sozialen Netzwerken würde sehr viel Unsinn verbreitet. 

Arbeitslosigkeit bedeutet Rückkehr in feindliche Elternhäuser

Seit dem Ausbruch von COVID-19 befinde sich die LGBTI-Community in Tunesien in einer kritischen Situation. Es fehle an allem. Zudem seien viele aus der Community  Student*innen oder Beschäftigte mit Alltagsjobs etwa in Callcentern. Sie lebten die meiste Zeit des Jahres fern von feindlich eingestellten Elternhäusern und unabhängig von ihren Familien. Jetzt haben sie die Jobs verloren, gehen nicht mehr zu Uni und sind gezwungen, in eine LSBTI-feindliche Umgebung zurückzukehren. Auch viele selbständige Freiberufler*innen seien von der Situation besonders hart betroffen. 

Die Pandemie habe zu Einkommenseinbußen geführt, viele LSBTI seien nicht mehr in der Lage, Unterkunft, Nahrung oder Medikamente zu bezahlen. Besonders betroffen seien Trans*Personen und Sexarbeiter*innen, für die es keine Anlaufstellen gebe und die von Obdachlosigkeit bedroht seien oder in ein Umfeld  zurückkehren müssten, in denen sie ihre Identität verleugnen müssten, was zu gesundheitlichen und psychischen Problemen führen könne. Wie alle vulnerablen Gruppen seien auch LSBTI auf die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Organisationen angewiesen, der Staat versage auf ganzer Linie. 

Digitale Sicherheitsmaßnahmen für Angebote und Aktivitäten

Auch für Mawjoudin war es zunächst nicht leicht, die Arbeitsweise der neuen Situation anzupassen. „Es ist anstrengend und herausfordernd, sichere Plattformen zu finden, aber glücklicherweise haben wir langjährige Erfahrung im Bereich der digitalen Sicherheit und die Unterstützung von Access now und Frontline Defenders, die uns bei den Schritten hin zu sicheren Online-Räumen geholfen haben“, so Ali. Zudem habe man Pläne geändert und einige Aktivitäten fallen gelassen oder verschoben, wie etwa das Filmfestival, auf das sich alle so gefreut hatten.

Trotz aller Schwierigkeiten sei man in der Lage gewesen, in zahlreiche Online-Aktivitäten und die Organisationsentwicklung zu investieren. Man führe viele Workshops durch, habe Gelegenheit, nach Verbündeten zu suchen, mit denen man online zusammenarbeiten könne, etwa in einem Podcast zur Bedeutung von Allianzenbildung. Man beginne auch mit Quizfragen im Internet, so dass der Spaß nicht zu kurz komme, biete Infos zum Thema sexuelle Gesundheit, digitale Sicherheit, queere Kultur etc. an. 

Mawjoudin habe die Fühler auch in die MENA-Region ausgestreckt, habe Kontakt zu verschiedenen Organisationen aufgenommen, um zusammenzuarbeiten und gemeinsam darüber nachzudenken, was für die Community der Region getan werden kann. Man habe bereits ein Panel mit 60 Vertreter*innen verschiedener Organisationen durchgeführt und man plane weitere online Events durchzuführen, um die Kontakte und die ganze Bewegung zu stärken. Online Meetings auf Instagram fänden statt, etwa zum Thema Covid-19, das von zwei Ärzten aus dem Umfeld von Mawjoudin moderiert wurde. 

Beratung über social media

Die Notrufnummer von Mawjoudin funktioniere auch weiterhin, man erhalte in dieser Zeit viele Anrufe, Nachrichten über Facebook und Instagram. Die Berater*innen gäben ihr Bestes, so Ali, um so vielen Menschen wie möglich zu helfen. Dazu gehören auch queere Migrant*innen und Asylsuchende in Tunesien. Weiterhin sei man aktiv in der Bekämpfung LSBTI-feindlicher Gewalt, arbeite in der Frage auch mit der Regierung zusammen. So fand ein Treffen mit der Frauenministerin statt, die auch Regierungssprecherin ist, um die Situation und die Zunahme der Gewalttaten zu erörtern. In Zusammenarbeit mit der nationalen Behörde für den Schutz personenbezogener Daten habe man auch ein Informationsvideo zum Thema Datenschutz produziert.

Auch Mawjoudin betont den Aspekt der Flexibilität, den man sich von Gebern und Partnerorganisationen wünsche, um auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft angemessen reagieren zu können. Andernfalls verliere man ihre Unterstützung und ihr Vertrauen. Zudem müsse man schon jetzt über Hilfen nach Covid-19 nachdenken, denn die Menschen würden viel psychologische Unterstützung brauchen. Man werde sich künftig mehr auf das Thema psychische Gesundheit konzentrieren müssen. 

Ali schließt mit einem positiven Ausblick: „Wir leben, um zu lernen, und hier und jetzt hat uns das Virus neue Gewohnheiten beigebracht. Es hat uns dazu gebracht, uns selbst wieder zu entdecken und unsere Fähigkeiten und auch unsere Grenzen kennenzulernen. Wir alle hoffen, dass die Welt besser und durch eine Abnahme der Belastungen für die Umwelt auch gesünder wird.“ 

Klaus Jetz

BMJV

Alle Blog-Artikel zum Projekt sind unter dem Tag HR-2020 zu finden.



Teile diesen Beitrag: