Nach dem Arabischen Frühling: Risiken und Chancen für LSBTI in Nordafrika und dem Nahen Osten – vor diesem Hintergrund luden die Hirschfeld-Eddy-Stiftung, das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut 14 Menschenrechtsverteidi-ger_innen aus der MENA-Region nach Deutschland ein. Ziele der siebentägigen Besuchsreise waren der Erfahrungsaustausch untereinander und die Vernetzung mit hiesigen Institutionen und Akteur_innen zu ermöglichen. Wir sprachen mit Dalia Al Farghal (Ägypten), Smail Wahrani (Algerien), Amani Zreba (Libyen), Sahtrot (Marokko), B. (Oman) und Ali Bousselmi (Tunesien).
Wie habt ihr zum Aktivismus gefunden und was gibt euch den Mut und die Kraft dafür?
Smail: Ich war an einem LGBT-Diskussionsforum beteiligt und dort diskutierten wir über unsere Rechte. Irgendwann habe ich gefühlt, dass ich auch was dafür tun möchte und musste.
Dalia: Mein eigener, persönlicher Kampf, der Kampf anderer und die Aufstände in Ägypten 2011.
Amani: Ich bin Teil der LGBTI-Community und daher weiß ich, wie hart es in Libyen ist.
Sahtrot: Mein tiefer Glaube an die Barmherzigkeit Gottes und der Menschen und eine unbedingte Liebe zur LGBT-Community.
B.: Durch das Organisieren von Zusammentreffen und Partys. Ich weiß, dass es ein Kampf ist als LGBTI und ich wollte meine Erfahrungen und mein Wissen teilen.
Ali: Es gibt viel Ungerechtigkeit in dieser Welt und ich habe beschlossen, am Kampf teilzunehmen und zu einem Wandel beizutragen. Wenn der Wandel dann einsetzt, gibt dir das viel Mut, vor allem in Bezug auf alles, was mit der Familie zu tun hat.
Welche Unterstützung gibt es für LGBT in Eurem Land?
Sahtrot: In Marokko vor allem das Internet und einige Organisationen, etwa durch die UN oder einige lokale Nichtregierungsorganisationen.
Amani: Wir bekommen keine Unterstützung und unsere Organisation arbeitet unabhängig.
Ali: Privat: Psychologische Unterstützung, juristische Hilfe und capacity building. Öffentliche Unterstützung gibt es keine.
Smail: Grundsätzlich keine. Homosexualität ist kriminalisiert und die Gesellschaft sehr homophob. Es gibt ein paar feministische Organisationen in Algerien, die bei Gewalt- und Missbrauchserfahrungen Beratung für lesbische Frauen anbieten.
B.: Es gibt keine Unterstützung.
Welche Einstellungen zu LGBT haben Gesellschaft und Politik?
Ali: In Tunesien werden wir durch eine homophobe Gesellschaft und eine Regierung diskriminiert, die Artikel 230 des Strafgesetzbuches anwendet. Dieser bestraft Homosexualität mit bis zu drei Jahren Gefängnis.
Dalia: Die Lage ist sehr instabil und bedrohlich. Menschen mit anderer geschlechtlicher oder sexueller Identität sind konstant Gewalt und Angriffen von Seiten der Gesellschaft und den Medien ausgesetzt, von den ägyptischen Behörden ganz zu schweigen.
Smail: Es gibt zwei Artikel im Strafrecht, die explizit Gefängnis für Homosexualität vorsehen. The Regierung greift uns nicht offen an, sie ignorieren uns eher.
B.: Sobald es öffentlich wird, reagieren Gesellschaft und Politik negativ.
Amani: Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind in Libyen illegal. LGBT werden tabuisiert und gelten als unmoralisch.
Wie sieht die rechtliche Situation in Euren Ländern aus?
Dalia: Es gibt kein spezielles Gesetz, das gleichgeschlechtliche Sexualität oder bestimmte Geschlechtsidentitäten verbietet. Allerdings gibt es einige Artikel in der ägyptischen Verfassung, die gegen LSBT benutzt werden.
Smail: Die Gesellschaft ist typisch arabisch-mediterran – sehr patriarchisch und heteronormativ. Das Thema ist sehr tabuisiert und bringt Schande über Familien.
Amani: Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind illegal. Wir haben ein Gesetz, das homosexuelle Beziehungen und Sexualität mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft (Penal Code 1953, Art. 407 / 408).
Ali: Homosexualität ist verboten. Das Gesetz verbietet vor allem den sexuellen Akt und es besteht die Möglichkeit, dass Artikel, die Prostitution betreffen, zur Anwendung kommen.
Sahtrot: Homosexuelle Beziehungen sind verboten.
B. Illegal
Wie werden die gesetzlichen Verbote angewandt? Stehen sie in erster Linie auf dem Papier oder ist Leben als LGBT praktisch unmöglich?
Smail: Es ist sehr kompliziert. Um internationalen Druck zu vermeiden, wird das Gesetz selbst nie wirklich angewandt. Allerdings werden schwule Männer mit anderen Beschuldigungen verhaftet: Erregung öffentlichen Ärgernisses, Ehebruch, versuchte Anstiftung. Selbst bei einer Verhaftung wegen eines homosexuellen Aktes, würden Richter_innen das unter anderen Anschuldigungen verhandeln.
Dalia: Es ist nicht vorhersehbar und wird nach Lust und Laune angewandt.
Sahtrot: Offen homosexuell zu leben ist in Marokko praktisch unmöglich.
B.: In Oman wird es nicht durchgesetzt – ich habe mit meinem Ex-Freund fünf Jahre in einer Wohnung gewohnt.
Ali: Das ist nicht unmöglich. In Tunesien gibt es Schwule, die out sind und dazu stehen. Doch die Bedrohung bleibt durch die Existenz des Strafrechts und es gibt Verhaftungen vor allem seit der Revolution.
Anami: Libyen ist ein muslimisches Land. Das Gesetz ist nicht implementiert, sondern viele rechtliche Texte und Artikel basieren auf dem islamischen Recht. Homosexuell zu sein bedeutet in Libyen gegen das Gesetz Gottes zu sein. Besonders nach der Revolution 2011 sind LSBTI verstärkt zu einem Ziel von Gewalt geworden.
Wie sieht Eure alltägliche Arbeit aus? Was sind Eure konkreten Ziele?
B.: Ich verbreite Neuigkeiten zum Thema LSBT in meinem Netzwerk und mein Ziel ist es, eine Gesellschaft und Unterstützung aufzubauen.
Ali: Ich lebe in einer gay friendly Familie und habe Aktivismus-Erfahrung auf verschiedenen Gebieten wie dem Frauenrecht, Flüchtlingsrecht…). ich habe also eine gewisse Glaubwürdigkeit und mir gelingt es, in aller Ruhe zu arbeiten.
Dalia: Wir bieten rechtlichen Beistand.
Smail: Hauptsächlich versuchen wir durch soziale Medien eine Community aufzubauen: Bekanntmachen von Kampagnen, Diskussionen und unsere Positionen in die Mainstreammedien zu bringen.
Anami: Unser Ziel ist eine sichere Gruppe und eine Bewegung, die mit libyischen LGBTI arbeitet, und wir hoffen auf eine Zusammenarbeit mit Watch Human Rights. Wir berichten über Gewalt gegen LGBTI auf unserer facebook-Seite und Homepage.
Sahtrot: Unser Ziel ist die LSBT-Feindlichkeit in den Institutionen und der Gesellschaft zu verringern und eine Gesellschaft von Liebe und Respekt aufzubauen.
Gibt es eine Erfolgsgeschichte zu erzählen?
Dalia: Wir haben kleine Erfolge, aber keine vollständige Erfolgsgeschichte.
B: Zwei Männer aus dem Oman und Saudi-Arabien – ich bin eine Art Mentor und wir haben regelmäßig Diskussionen über Soziale Medien.
Ali: Wir haben 47 meist junge Leute nicht nur aus Tunis eingeladen, um mit Workshops die wirklichen Bedürfnisse der Community in Erfahrung zu bringen. Während des Weltsozialforums 2015 haben wir Demos organisiert
Smail: 2012 hatte unsere 10–10-Kampagne zum Nationalen LGBT Tag so viel Erfolg, dass El Watan darüber berichtete. Das ist die am meisten gelesene Zeitung in Algerien. Eine Woche später gab es erneut einen Artikel über die Reaktionen von Leser_innen. Wir fanden es gut, dass neben den homophoben auch die unterstützenden Botschaften abgedruckt wurden. Die Tatsache, dass Millionen Leser_innen die unterschiedlichen Sichtweisen lesen konnten, brachte auch eine Debatte in unseren sozialen Medien.
Anami: Wir konnten homosexuelle Männer mit Kontakten unterstützen, so dass sie Asyl in Deutschland erhalten haben.
Was sind die größten Hindernisse für Eure Arbeit?
Sahtrot: Eine Gesellschaft, die manipuliert wurde, damit sie LGBT hassen.
Smail: Die Angst öffentlich geoutet zu werden und die harten Drohungen, die wir tagtäglich bekommen.
Ali: Wir haben keine Büroräume und es ist nicht leicht, einen sicheren Ort zu finden, der gay friendly ist und wo wir Veranstaltungen durchführen können.
B.: Sicherheit und die Angst geoutet zu werden.
Dalia: die instabile politische Situation in Ägypten, das schlechte Bildungssystem und der Westen, der unsere repressiven Regime unterstützt.
Was sind Eure Argumente und Strategien für mehr Akzeptanz?
Sahtrot: Der erste Schritt muss sein, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln, die die Gesellschaft überzeugt, dass Homosexualität keine Krankheit ist.
B.: Zusammentreffen organisieren, Informationen verbreiten und einen Vorbild zu sein,
Dalia: Mehr Menschen über sich selbst und andere zu bilden.
Smail: Wir versuchen Menschen zu überzeugen, dass wir keine Belästigung oder irgendeine Gefahr darstellen. Wenn jemand verstanden hat, dass wir niemanden „konvertieren“ wollen und auch keine Kriminellen sind, kann die Diskussion beginnen.
Ali: Wir stützen uns auf die Menschenrechte als Argument. Wir zeigen den anderen, dass wir da sind und existieren. Es ist kein Akt der Nächstenliebe, uns zu akzeptieren. Denn die Akzeptanz ist Pflicht und keine Wahl.
Wer unterstützt Euch?
Anami: Das Netzwerk Mantiqitna (http://www.mantiqitna.org/)
Smail: Hauptsächlich LGBTIs aus anderen Ländern, aber überraschenderweise auch viele algerische Heterosexuelle, vor allem Frauen.
Dalia: Gut ausgebildete Menschenrechtsverteidiger_innen aus der ganzen Welt, Opfer von LGBTI-feindlicher Gewalt, viele feministische Gruppen und andere Aktivist_innen, die zu den Rechten von LSBTI arbeiten.
Ali: LGBTI-Vereinigungen und feministische Vereine: u.a. Chouf, Damj, ADLI, ATFD/FRIDA, AFE, Mantiqitna, LGBTI Denmark…) und unsere Mitglieder.
Sahtrot: Menschenrechtsorganisationen aus Marokko und der ganzen Welt.
B: Einige Freunde.
Was erwidert Ihr auf die Anschuldigung „unislamisch” zu sein?
B.: Glücklicherweise ist es im Oman nicht akzeptiert, solche Fragen zu stellen.
Sahtrot: Es ist schwierig, sicher zu sein. Wir können nicht wissen, was islamisch und was unislamisch ist.
Smail: Wir machen geltend, dass wir muslimische Mitglieder haben. Sie sind lesbisch oder schwul aber immer noch muslimisch. Wir bitten sie oft, sich einzusetzen und zu zeigen, dass man beides sein kann.
Dalia: Ich bevorzuge die Bezeichnung „säkular”.
Wie begegnet ihr der Behauptung, dass Homosexualität ein Lebensstil und Import aus dem Westen ist?
Dalia: Homosexualität als ein Verhalten ist nicht westlich. Aber ich denke, Homonationalismus ist westlich und seine Auswirkungen auf unsere Gesellschaften. Das macht die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sehr ungewohnt für uns.
B.: Homosexualität gab es im Oman schon immer und wir waren dafür im G.C.C. (Kooperationsrat der arabischen Staaten des Golfes bzw. Golf-Kooperationsrat bestehend aus Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Oman)
Ali: Homosexualität gab es immer in allen Gesellschaften, und sie ist keine Lebensart, die man importiert.
Smail: Die Tatsache, dass wir unser algerisches Erbe und unsere algerische Identität laut und deutlich machen ist ein guter Anfang. Wir bestehen immer darauf, dass wir eine spontan entstandene algerische Bewegung sind.
Anami: Es stimmt nicht. Homosexualität ist seit Jahrhunderten in unserer Geschichte und Kultur.
Sahtrot: Wir bringen die wissenschaftliche Perspektive vor.
Zum Abschluss: Wie können deutsche Politik und Organisationen und Euch und Eure Arbeit unterstützen, vor allem ohne eine rassistische Hierarchien zu reproduzieren?
Sahtrot: Arbeitet nicht auf eigene Faust, sondern mit uns zusammen. Es muss aus dem Inneren und nicht von außen kommen.
Smail: Stellt uns Wissen, das auf Euren Erfahrungen basiert, zur Verfügung: Trainings, Austauschtreffen. Unterstützt uns beim Zugang zu Geldern für unsere geplanten Projekte: Wir bevorzugen eher eine kleine Förderung für passende Aktivitäten als große Briefumschläge geknüpft an die Kongruenz mit Förderrichtlinien der Geber. Coacht uns auch in Tipps für ein sicheres Arbeiten als Aktivist_in. Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, ein zunehmendes Phänomenen anzusprechen: Aktivist_innen aus der MENA-Region fliehen nach Europa und beantragen dort Asyl. Manchmal nutzen sie auch Veranstaltungen wie diese Besuchsreise, um aus ihrem Land zu fliehen. Aber wenn alle nach Europa gehen, wer führt dann den Kampf in den Heimatländern weiter? Klar, sie helfen auch aus dem Ausland, aber die Arbeit vor Ort ist das Wichtigste. Deswegen denke ich es ist besser die Sicherheit von Aktivist_innen zu erhöhen als ihnen mehr Gelegenheit zu geben, sich zu exponieren. Das eigene Land zu verlassen sollte eine Wahl und kein Verhängnis sein.
Dalia: Die deutsche Regierung sollte als ersten Schritt aufhören, dass gegenwärtige Regime zu unterstützen. Ich empfehle auch mehr Geld in die Integration und Unterstützung von LSBTI-Flüchtlingen zu investieren und sichere Unterkünfte, Bildung und Jobs, mehr Erleichterungen (Das sollte für alle Flüchtlinge gelten). Den Austausch von Expertise und die Förderung von Wissen und Know-how (capacity building). Zudem könnte sie Praktika und Stipendien für Menschenrechtsverteidiger_innen aus unseren Ländern anbieten.
B.: Vernetzung mit der deutschen Botschaft im Oman.
Ali: Durch Visavergabe an Menschen, die in Not sind. Weniger Treffen, bei denen auf höchster Ebene viel geredet, aber wenig getan wird. Lösungen erarbeiten anstatt auf der Problemebene zu verharren, politischer Druck und capacity building für Aktivist_innen.
Anami: Erleichtert das Ausstellen von Visa für Activist_innen und gefährdete LGBTI, bietet Kooperationen und Ausstauschprogramme für mehre Freiheit und die Entkriminalisierung an. Ihr könntet Veranstaltungen und Aktivitäten der LGBTI-Community unter dem Schutz der Deutschen Botschaften abhalten.
Interview: Guido Schäfer und Markus Ulrich