Probleme des späten Coming-out
Es scheint, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein Coming-out als Lesbe oder Schwuler immer leichter geworden ist: In vielen deutschen (Groß-)Städten gibt es Coming-out-Gruppen für Jugendliche oder junge Erwachsene. In den Medien sind Coming-out-Geschichten längst nicht mehr ein so großes Tabu wie noch vor 20 Jahren. Wer denkt aber bei einem Coming-out an Erwachsene, die in einer langjährigen heterosexuellen Beziehung oder Familie leben? Gibt es überhaupt Unterschiede zwischen einem späten und einem frühen Coming-out?
Was die Gefühle der Betroffenen betrifft, finden sich wenige Unterschiede. Ob man als Teenager und junger erwachsener Mensch seine Liebe zum gleichen Geschlecht entdeckt oder ein spätes Coming-out durchlebt — ein Coming-out ist in den allermeisten Fällen ein Prozess, der phasenweise verläuft. Der entscheidende Unterschied zwischen einem späten und einem jugendlichen Coming-out besteht in den Lebensumständen: Das späte Coming-out betrifft Frauen und Männer, die über Jahre das eigene Leben nach dem Bild der Heterosexualität ausgerichtet haben, viele sind verheiratet, haben Kinder und ein lange gewachsenes heterosexuelles Umfeld. Hier verunsichert ein homosexuelles Coming-out nicht mehr nur Selbstverständliches, sondern es „kommt einem Erdbeben gleich. Kein Stein bleibt mehr auf dem anderen, alles muss neu sortiert, mühsam neu aufgebaut werden“ wie es Helga Boschitz in dem Buch „Es fühlt sich endlich richtig an! Erfahrungen mit dem Späten Coming-out“ schreibt. Von dem Erdbeben sind nicht nur die Spätgeouteten betroffen. Beraterinnen und Berater, Psychologinnen und Psychologen berichten, dass nahestehende Menschen wie Partnerinnen und Partner, Kinder, Freundinnen und Freunde zumindest verunsichert sind, viele sich verletzt fühlen oder gar zurück ziehen.
Oftmals ist es die Angst, Angehörige zu enttäuschen, zu verletzen und zu verlieren, die die betroffenen Menschen über Jahre oder Jahrzehnte davon abhält, sich zu outen. Auch die eigene Sozialisation mit Vorurteilen über Homosexuelle, über Homosexualität als Krankheit oder Sünde, als eine vergängliche Phase, und die Sozialisation mit Erwartungen, dass nur heterosexuelles Leben normal sei, sind Gründe dafür. Selbst wenn die Betroffenen es bereits selbst lange ahnen oder wissen, gründen viele eine heterosexuelle Familie.
Wie viele homosexuelle Menschen in heterosexuellen Beziehungen leben, ist unklar. Dazu gibt es weder zuverlässige Zahlen, noch sind Schätzungen möglich. Wenn man die Schwierigkeiten eines Coming-out an sich bedenkt und dann noch die Problemlagen eines späten Coming-out beachtet, ist dies nicht verwunderlich. Betroffene stehen vor der Frage „Offenheit oder Doppelleben?“ Offenheit birgt die Gefahr, alles zu verlieren und die Konsequenzen nicht aushalten zu können. Ein Doppelleben aber verschleißt Kräfte und verursacht einen immensen Leidensdruck, der nicht zuletzt krank machen kann.
In Deutschland existieren inzwischen einige Selbsthilfegruppen wie die Schwulen Väter in Köln und die Late Bloomers in Frankfurt/Main. Partnerinnen von schwulen oder bisexuellen Männern haben sich z.B. im Netzwerk TANGIERT zusammengeschlossen. Fachpersonal aus der Familiensozialarbeit kann sich beim vom LSVD-Projekt „Homosexualität und Familien“ informieren und beraten lassen. Ab Juli 2012 bietet das Projekt bundesweit auch Schulungen und Vorträge an, in denen Fachleute Anregungen finden, wie ratsuchende Angehörige im Umgang mit einem späten Coming-out unterstützt werden können.
Ilka Borchardt, Leiterin des LSVD-Projekts „Homosexualität und Familien“