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Queere Kolonialerfahrung – Auswirkungen des Kolonialismus auf LSBTIQ* und Dekolonisierung des Völkerrechts

Einladung/Invitation

Klaus Jetz, Sarah Kohrt, Karina Theurer, Guillermo Ricalde, copyright: Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Auftaktveranstaltung des Projektes Kulturen und Kolonialismus

Dekolonisierung und Menschenrechte von LSBTIQ, queere Kolonialerfahrungen und die Auswirkungen des Kolonialismus auf queere Lebenswelten heute, das waren die Themen der Auftaktveranstaltung des diesjährigen Projektes der Hirschfeld-Eddy-Stiftung zum Thema Kulturen und Kolonialismus.

Über 60 Teilnehmende zählte der Webtalk mit der Völkerrechtlerin Karina Theurer und dem Menschenrechtsexperten Guillermo Ricalde von ILGA World in Genf moderiert von Sarah Kohrt. Zunächst lieferten beide einen kurzen Einblick in ihre Arbeitsgebiete.

Guillermo Ricalde, copyright: Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Ricalde stellte die wichtigsten Erkenntnisse und Empfehlungen aus dem Bericht des ehemaligen Unabhängigen Experten der UN Víctor Madrigal-Borloz zu den Folgen des Kolonialismus in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität vom Juli 2023 vor. Es handelt sich um einen weltweiten Überblick über die Hinterlassenschaften des Kolonialismus in rechtlichen und gesellschaftspolitischen Bereichen, auf Gesetzgebungen, Sitten- und Moralgesetze, das Agieren von Regierungen und anderen Akteuren in verschiedenen Weltregionen. Im Bericht wird deutlich, dass es überall und immer eine große Vielfalt an sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten gab; Menschen, die in verschiedenen Kulturen respektiert und beispielsweise als zeremonielle und spirituelle Begleiter*innen geschätzt wurden.

Andererseits stellt der Bericht heraus, welche Strategien die Kolonialmächte verfolgten, um die kolonisierten Menschen zu unterdrücken und zu kontrollieren. Sie wurden etwa zur christlichen Religion zwangsbekehrt, rigiden Geschlechterrollen unterworfen oder kriminalisiert, wenn sie gegen die heteronormativen Vorstellungen verstießen. Europäische Moralvorstellungen wurden durchgesetzt, Verhaltensweisen, die dagegen verstießen, unterdrückt. Religiöse Konzepte von Schuld und Sünde zielten auch auf abweichendes sexuelles Verhalten, säkulare Diskurse sorgten für entsprechende repressive Gesetze. Die Hinterlassenschaften der Kolonialzeit waren so stark, dass sie die Unabhängigkeit überdauerten, sogar Auswirkungen auf Nachbarländer hatten, die nicht von Kolonialmächten unterjocht worden waren. Noch heute wirken sie fort, koloniales Gedankengut wird wieder hervorgeholt, um im Namen der Verteidigung der Kultur Kampagnen zu starten, mit denen LSBTIQ weiter kriminalisiert werden, wobei immer wieder bewusst gegen internationale Menschenrechtsstandards verstoßen wird.

Darüber hinaus enthält der Bericht konkrete Empfehlungen an die Staaten: Entkriminalisierung von LSBTIQ, öffentliche Entschuldigungen für Verfolgung und Wiedergutmachung. Ricalde wirbt dafür, den Bericht zu lesen. Er ist ein gutes Tool, um sich zu wappnen für Debatten zum Thema.

Karina Theurer, Sarah Kohrt, copyright: Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Karina Theurer widmet sich dem Thema Reparationen für Kolonialverbrechen am Beispiel Namibias, wo deutsche Kolonialtruppen einen Völkermord an Herero und Nama begingen. Ihr ist es wichtig, sich Eurozentrismus kritisch anzuschauen, da dieser während des Kolonialismus entstand. So tradierten auch die Menschenrechte und das Völkerrecht koloniale Inhalte. Das Recht sei immer auch ein Spiegel von Machtverhältnissen, verändere sich konstant und enthalte wirkmächtige nichtrechtliche Wissensbestände wie binäre Heteronormativität oder rassistische Abwertungen, die auch auf die Kolonialzeit zurückgingen. Dies sei im Völkerrecht noch stärker verankert als im nationalen Recht. Eine dekoloniale Rechtskritik zeige auf, wie Ausbeutung, Rassismus und Diskriminierung im Kolonialismus und auch nach der Unabhängigkeit durch das Recht ermöglicht wurde.

Das moderne universale Völkerrecht habe seinen Ursprung in Europa. Zwar habe es eine formelle Gleichheit aller Staaten gegeben. Dies galt aber nur für „zivilisierte“ Nationen. Herero und Nama waren als „nichtzivilisierte“ Völker keine Rechtsubjekte. Vor der Einführung des modernen Völkerrechts habe es eine polyzentrische Rechtsordnung gegeben, was von der Bundesregierung ausgeblendet werde, wenn es um die Frage des Unrechts, des Völkermordes in Südwestafrika und der Wiedergutmachung gehe. Man ziehe sich auf den Standpunkt zurück, dass man zwar in politischer Sicht, nicht aber in rechtlicher Sicht von einem Völkermord sprechen könne, da die Völkermordkonvention erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Sie sei nicht rückwirkend anwendbar.

Das Versöhnungsabkommen der Bundesregierung mit Namibia vom Mai 2021 stieß auf heftige Proteste in Namibia. Es sieht keine Reparationen, sondern Entwicklungshilfe vor; es habe sich bei dem Völkermord an den Herero und Nama nicht um Unrecht im rechtlichen Sinn gehandelt. Die Völkerrechtlerin Karina Theurer unterstützt eine Klage gegen das Versöhnungsabkommen vor dem namibischen High Court und setzt sich dafür ein, dass die Nachfahren der Herero und Nama Reparationen erhalten. Dies sei auch ein wichtiger Schritt zur Dekolonisierung des Völkerrechts und ein Beitrag zur Überwindung eurozentristischer Sichtweisen. Es gehe letztlich auch um die Frage, welche Wissensbestände im Recht reproduziert werden und welche nicht.

Nach den Präsentationen beantworten beide Referent*innen Fragen aus dem Publikum, etwa zur Wirkung des Berichtes des Unabhängigen Experten oder zur polyzentrischen Rechtsordnung im Gegensatz zum (eurozentristisch geprägten) Völkerrecht und dessen „Geburtsfehler“. Bislang stellten die Menschenrechte einen Korb von westlichen Konzepten dar, so Theurer. Es gelte nunmehr, den Korb mit weiteren Konzepten aus anderen Weltregionen zu füllen, kollektiven Menschenrechten wie das Ubuntu-Konzept aus dem südlichen Afrika oder die indigenen Vorstellungen vom Buen vivir aus dem Andenraum.

Ganz allgemein stelle sich die Frage, ob uns der westliche Individualismus oder kollektive Ansätze weiterbringen, wenn wir den Globalen Süden dafür gewinnen wollen, die universellen Menschenrechte in einer sich abzeichnenden neuen Weltordnung zu stärken.

Klaus Jetz, Hirschfeld-Eddy-Stiftung

Ein Beitrag im Rahmen des ProjektsKulturen und Kolonialismus — Der Kampf um die Menschenrechte von LSBTIQ* im Licht der Debatte um Dekolonisierung“ der Hirschfeld-Eddy-Stiftung.

Links und Hintergrundinformationen

Website Karina Theurer
Article by Karina Theurer in Völkerrechtsblog: Germany Has to Grant Reparations for Colonial Crimes
Website von ILGA World
Website UN independent Expert SOGI and link to his U.N. report on impact of colonialism

BMJ
HES



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