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Rehabilitierung nach §175

Brief von Manfred Bruns (LSVD) an die Justizministerinnen und Justizminister aller Bundesländer (außer Berlin)

Sehr geehrter Herr Minister,

am 26.09.2012 steht der Antrag des Landes Berlin „Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten“ (Drucksache 241/12) auf der Tagesordnung des Rechtsausschusses des Bundesrates.

Wir möchten Sie ganz herzlich bitten, den Berliner Antrag zu unterstützen.

Die junge Bundesrepublik hat die nationalsozialistische Verfolgung der Homosexuellen bruchlos fortgesetzt. Die von den Nazis verschärften Strafvorschriften wurden beibehalten und ebenso exzessiv angewandt. Homosexuelle, die die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt hatten, wurden zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder eingesperrt. Man setzte — wie zu Zeiten der Nationalsozialisten — alles daran, die Homosexuellen aufzuspüren und „unschädlich“ zu machen.

Wenn jemand auffiel, durchkämmte man seinen gesamten Bekanntenkreis. Die Strafen für überführte Homosexuelle waren gnadenlos hoch. Die Verurteilung bedeutete für sie zugleich den sozialen Tod. Nicht wenige Homosexuelle, die die Verfolgung der Nazis überlebt hatten, sind in den fünfziger Jahren aus Verzweiflung über diese Verfolgungspraxis freiwillig aus dem Leben geschieden.

Für diese „schweren Verfolgungen“ hat sich der Bundestag bei den Betroffen zu Recht entschuldigt. Er kann dieses Unrecht zusätzlich durch Aufhebung der Urteile korrigieren. Das sollte getan werden, solange die Betroffenen noch leben.

Unsere umfassende Begründung und weiteren Ausführungen zum Thema lege ich diesem Schreiben bei.

Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Manfred Bruns, Bundesvorstand

Zur Diskussion um die Aufhebung der nach 1945 nach § 175 erfolgten Verurteilungen

Gegen eine Aufhebung wird zumeist angeführt: Wenn sich die Auffassungen über die Strafbarkeit eines Verhaltens änderten, sei das kein Grund, frühere Verurteilungen aufzuheben (1). Die Verurteilungen nach §§ 175, 175a StGB seien vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden (2). Auch dürfe der Gesetzgeber keine rechtskräftigen Urteile aufheben. Das verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung — Art. 20 und 92 GG (3).

1.  Bei den Verurteilungen wegen einverständlicher homosexueller Handlungen hat sich aber nicht nur die Auffassung über die Strafbarkeit geändert, sondern es hat sich aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese Praxis menschenrechtswidrig war. Demgemäß hat der Deutsche Bundestag 2000 anerkannt, dass die homosexuellen Bürger dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind. Nach Art. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

2.  Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht der Sexualbereich als Teil der Privatsphäre unter dem verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.43. Während das Bundesverfassungsgericht 1957 noch entschieden hatte, dass sich homosexuelle Männer für ihre Art der Sexualität nicht auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen könnten, hat es inzwischen seine Rechtsprechung geändert und entschieden, dass Lebensgemeinschaften homosexueller Menschen zwar nicht durch Art. 6 Abs. 1 GG, wohl aber durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt sind. Damit hat es sein Urteil vom 10.05.1957 stillschweigend „kassiert“.

3.  Wenn der Europäische Gerichtshof zur Auffassung gelangt, dass eine strafgerichtliche Verurteilung gegen die Menschenrechtskonvention verstößt, kann er die Verurteilung nicht aufheben, sondern nur dem Staat, der die Verurteilung zu vertreten hat, die Zahlung einer Entschädigung an den Verurteilten auferlegen. Deshalb hat der Bundesgesetzgeber 1998 in § 359 StPO eine neue Nr. 6 eingefügt. Danach kann ein durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahren zugunsten des Verurteilten wieder aufgenommen werden, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.

In dem Gesetzgebungsverfahren war beantragt worden, für alle Verurteilungen einen Wiederaufnahmegrund einzuführen, die auf einer vom Europäischen Gerichtshof für konventionswidrig erklärten Norm beruhen. Das wurde abgelehnt, weil den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur Bindungswirkung inter partes zukomme. Das hindert den Gesetzgeber aber nicht, nunmehr für eine Gruppe von Verurteilungen, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf einer konventionswidrigen Norm beruhen, entweder ein Wiederaufnahmeverfahren einzuführen oder zur Vermeidung unnötigen bürokratischen Aufwands die Urteile insgesamt aufzuheben, wenn die Verletzung der Menschenrechte evident ist. Das ist bei den Verurteilungen wegen einverständlicher sexueller Handlungen zwischen Männern der Fall und vom Bundestag bereits anerkannt worden.



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