Großeltern in Regenbogenfamilien
Die öffentliche Sichtbarkeit von Regenbogenfamilien hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Weit weniger sichtbar jedoch sind die dazugehörenden Großeltern. Gründe hierfür sind unter anderem in Vorurteilen gegenüber Homosexuellen zu finden. Vor allem das Stereotyp, dass Homosexualität und Familie sich gegenseitig ausschließen würden, trifft die Eltern von Homosexuellen auch dann, wenn die lesbischen oder schwulen Kinder Eltern werden oder bereits sind. Manche Mutter oder mancher Vater eines homosexuellen Kindes meint vielleicht, dass die Vorurteile bereits mit dem ersten eigenen Coming-out ausreichend bearbeitet seien. Doch dann wird deutlich, dass dem vielleicht nicht so ist. Die Auseinandersetzung wird vielmehr neu belebt, wenn die lesbische Tochter oder der schwule Sohn ein Kind bekommt und die eigenen Eltern zu Großeltern macht.
Die Vorurteile in Bezug auf Homosexualität begegnen den Großeltern in Form von Fragen oder von Kommentaren, als Blicke oder als irritiertes oder betretenes Schweigen anstelle von Glückwünschen oder Nachfragen zum Enkelkind. Die damit verbundenen tagtäglichen Zweifel, wer und was Familie ist, können die Freude über das Enkelkind schmälern – als hätte es noch nicht gereicht, sich im ersten Coming-out mit den eigenen Vorurteilen und Vorbehalten zu beschäftigen. Der Unterschied ist nun jedoch, dass die (werdenden) Großeltern nicht mehr ganz unvorbereitet sind. Idealerweise haben sie ihre eigenen Vorbehalte reflektiert und gelernt, sich mit denen anderer auseinanderzusetzen. Wünschenswerterweise akzeptieren sie die Homosexualität ihres Kindes und nehmen die Partnerin der Tochter oder den Partner des Sohnes als Schwiegerkind an.
Manche Vorbehalte jedoch wurden unter Umständen auch im ersten Coming-out nicht angerührt. Vielleicht wurde ganz kurz darüber gesprochen, die Hoffnung auf eigene Enkelkinder dann doch auf Eis gelegt, weil es so umständlich, kompliziert und aufwändig ist für Lesben und Schwule, Kinder zu bekommen. Diese nicht ausgesprochenen Sorgen und Unsicherheiten, Vorbehalte und Vorurteile tauchen mit Sicherheit auf, wenn ein Kind ins Haus kommt. Diese Sorgen beziehen sich zwar in allererster Linie auf das Wohl des Enkelkinds und den Umgang mit der sexuellen Identität in der Familie. Sie stellen aber auch die Fragen nach der Positionierung der Großeltern. Ihnen kommt hier eine wichtige Rolle zu – als in der Regel heterosexuelle Mitglieder in einer Regenbogenfamilie sind sie gefordert zum Wohle der eigenen Kinder, der Enkelkinder, aber auch zum eigenen Wohl aktiv gegen Vorurteile zu werden. War es im ersten Coming-out vielleicht häufig noch eine defensive Position, können sie nun viel zur Normalisierung von Regenbogenfamilien und damit zum täglichen Abbau von Vorurteilen beitragen: Das heißt nicht nur, in Krisensituation Partei zu ergreifen, auszugleichen oder zu unterstützen, wenn das Kind wegen der eigenen Familienkonstellation tatsächlich gehänselt wird. Dazu gehört auch, beim Großelterntag in der Kinderbetreuungsstätte in Gesprächen mit den anderen Kindern und dem Kita-Personal die Vielfalt und Veränderung von Familienformen bewusst einzubringen. Das heißt, beim Spaziergang mit dem Enkelkind durchs Stadtviertel oder das Dorf auf die Fragen von Bekannten und Nachbarn die Normalität des Lebens in einer Regenbogenfamilie und die eigene Zugehörigkeit zu ihr zu zeigen.
Eine solche Strategie hat gleich mehrere Effekte: Großeltern brauchen sich nicht (mehr) zu verstecken – das gibt ein Gefühl der Sicherheit und Authentizität. Eine solche selbstbewusste Positionierung als Eltern eines Schwulen oder einer Lesbe (und deren Partner/in!) ist auch von außen weniger angreifbar, als wenn die Nachbarn oder Bekannten Unsicherheit spüren – eine Erfahrung, die im ersten Coming-out sicher schon gemacht wurde. Ein selbstverständlicher und offener Umgang mit der Regenbogenfamilie regt manchmal vorurteilsbeladene Köpfe mehr zum Nachdenken an als abstrakte Argumente. Und nicht zuletzt wird das Kind so von Anfang an darin bestätigt, dass seine Familie gut ist, wie sie ist.
Ebenso wie Großeltern in heterosexuellen Familien nicht immer und für alles zur Verfügung stehen, weil sie ein eigenes Leben haben, ist es auch für Großeltern in Regenbogenfamilien legitim und wichtig, die eigenen Grenzen zu wahren. Großeltern haben ihre Elternpflichten erfüllt, so gut sie konnten. Sie sind nicht mehr für das Wohl und Wehe ihrer Kinder verantwortlich. Zwar sind Großeltern in Regenbogenfamilien wichtige Verbündete für Akzeptanz und Gleichstellung homosexueller Eltern. Als Eltern von Lesben und Schwulen betreffen die Vorurteile gegen Homosexuelle auch sie selbst, und sie haben idealerweise mit dem eigenen Coming-out ein originäres Interesse an der Akzeptanz verschiedener Lebensweisen gestärkt oder entwickelt. Insofern ist es logisch, auch in der Großelternrolle den Kampf um Anerkennung fortführen zu wollen. Dennoch ist es nicht nur für das eigene Wohl, sondern auch für die Beziehungen zu den Kindern und Schwiegerkindern und für das Wohl des Enkelkindes entscheidend, Grenzen des (familiären und gesellschaftlichen) Engagements zu erkennen und zu wahren. Wer genervt und erschöpft ist von den Auseinandersetzungen mit Vorurteilen gegenüber Homosexuellen, kann weder die Rolle als Großeltern genießen und hat vielleicht das Gefühl, nur noch über die sexuelle Identität der eigenen Kinder definiert zu werden.
Noch können Großeltern in einer solchen Situation sicher, selbstbewusst und selbstverständlich zur Akzeptanz von Regenbogenfamilien beitragen. Wenn auf der anderen Seite Großeltern die Enkel bei jedem Besuch nach Diskriminierungserfahrungen befragen (weil sie vielleicht meinen, die Kinder würden dies den Eltern nicht erzählen), fördert dies bei den Kindern ein Gefühl von Unsicherheit, von riskantem Anderssein und von der Gefahr ausgeschlossen zu werden. Hier helfen wiederum offene Kommunikation mit den Eltern des Enkelkindes, ebenso wie das Bewusstsein für eigene Bedürfnisse und die Achtsamkeit und Respekt vor der Autonomie der anderen Familienmitglieder – der eigenen erwachsenen Kinder und der Enkelkinder natürlich.
Über die Lebenssituation, die Herausforderungen und Chancen von Großeltern in Regenbogenfamilien wird mit der Zeit hoffentlich noch mehr bekannt werden. Forschungen sind nötig, Erfahrungsberichte werden gesammelt und Einrichtungen der Familienbildung und ‑beratung werden sich öffnen. Wir konnten hier nur einen kleinen Ausschnitt skizzieren, der auf unseren Erfahrungen in Fortbildungen mit Fachleuten und auf Gesprächen mit Betroffenen beruht. Nach heutigem Stand lassen sich die Herausforderungen für Großeltern in Regenbogenfamilien folgendermaßen zusammenfassen: Es gilt, in jeder Phase des Großelternwerdens und –seins eine Balance zu finden zwischen der Reflexion eigener Vorbehalte und gesellschaftlich vorgegebener Rollen, der Auseinandersetzung mit den Vorurteilen anderer, dem Austausch über Sorgen, Hoffnungen und Wünsche und dem Akzeptieren eigener Bedürfnisse und Befürchtungen. Das Großelternwerden in Regenbogenfamilien kommt einem zweiten (oder dritten oder vierten…) Coming-out gleich. Tatsächlich ist ein Coming-out niemals gänzlich abgeschlossen. Es ist ein anhaltender Prozess, sich mit Neuem zu befassen und sich selbst immer wieder wahr- und ernst zu nehmen. Aber es ist auch eine große Chance, auf individueller, familiärer und auf gesellschaftlicher Ebene. Oder mit den Worten eines Vaters beim Bundeselterntreffen des befah e.V. 2013 in Berlin:
„Erst habe ich gedacht, jetzt fängt das Ganze mit dem Reflektieren und Coming-out wieder von vorne an. Diese ganzen Vorurteile gegen unsere Kinder als Eltern sind so schwer zu ertragen. Wie könnten wir denn dann glückliche Großeltern sein? Aber jetzt habe ich die Hoffnung, dass die ganze Auseinandersetzung sich ja doch lohnt. Und jetzt kann ich es gar nicht mehr abwarten, bis ich endlich Opa werde!“
Ilka Borchardt und Heiko Reinhold
Projekt „Homosexualität und Familien“
Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Kapitel „Großeltern in Regenbogenfamilien“ aus dem LSVD-Beratungsführer „Homosexualität in der Familie. Handbuch für familienbezogenes Fachpersonal“ 2014, S. 77–97.